Von Rüdiger Pradella

  1. Draußen auf dem Dach

 

Die Sonne stand hoch am Himmel. Louisa schälte sich aus ihrem atmungsaktiven Expeditionsschlafsack. Noch eine Weile und die Sonnenstrahlen würden ihr Apokalypse- Hauptquartier, das Flachdach eines alten Hallenbades, auf locker 25 Grad erhitzen. Auf den ersten Blick war alles in Ordnung. Die Vögel sangen ihre Lieder, der Wind wehte eine sanfte Brise ohne Verwesungsgeruch herüber, das Knarren der Feuertreppe war nicht zu hören. Sie hatte in den letzten zwei Jahren gelernt, all die kleinen Anzeichen wahrzunehmen, die sie zur Wachsamkeit zwangen. Nicht, dass sie wehrlos war. Louisa führte ein Waffenarsenal von drei Messern, einer Dose Pfefferspray und einem Teleskop-Schlagstock mit sich. Als sie noch mit Joshua unterwegs gewesen war, hatten sie ein großes doppelläufiges Gewehr gehabt, aber er war seit über einem Jahr tot und sie hatte schon lange keine Patronen mehr gefunden, die ein schweres Gewehr rechtfertigten. 

 

Mit der Kleidung nahm sie es im Sommer nicht so ernst. Sie suchte ein Haargummi und band ihr blondes, leicht grünlich schimmerndes Haar zu einem Pferdeschwanz. Artig cremte sie sich mit Sonnenmilch ein, nichts war schlimmer, als Hautkrebs beim Weltuntergang, schlüpfte in ihre Springerstiefel mit Stahlkappen und kramte die beiden Halterungen ihrer Messer, die sie im Schlaf zwischen zwei kleine Sträucher gekickt hatte, hervor. Routiniert befestigte Louisa die Gummiriemen am Körper und schob ihre Kampfmesser rein. Mit der morgendlichen Routine wollte sie sicher stellen, dass sie immer bewaffnet war. Ein Messer war am linken Unterschenkel fixiert, eines am rechten Oberarm und eines hatte sie in einem Etui im Rucksack zur Reserve. Pfeifend zog sie einen Feldstecher aus der Seitentasche des Rucksacks, hing ihn sich um den Hals und ging wie ein Soldat im Stechschritt auf Patrouilliere. 

 

Das Hallenbad lag etwas zwischen einem verwilderten Wohngebiet, dass in den 1980ern erschlossen worden war und jetzt von Wildtieren bewohnt wurde, einer ehemaligen Kaserne der Briten, einem Schulzentrum mit weitläufigem Schulgelände und einem Industriegebiet mit alten LKW-Wracks und einer großen Glaserei. Vergangene Nacht, meinte Louisa, auf der Straße zur Innenstadt hin, Wölfe gesehen zu haben. Gefahren lauerten überall, vor allem, wenn Louisa in Häuser und Supermärkte einbrach, um Konserven und Einmachgläser zu besorgen.

 

  1. Gedanken treiben lassen

 

Sie grinste breit. Mit der Zeit hatte sie gelernt, die Haltbarkeit von Schokolade wertzuschätzen. Sie nahm eine Tafel aus dem Rucksack. Die Sonne schien ihr auf den Bauch, der Himmel lachte, die Vögel zwitscherten, wäre noch jemand zum Reden da, ihre Welt wäre eine bessere. 

Zumindest schlug sie sich durch. Auch wenn es mehr Wunder als Können war, das sie am Leben hielt. Sie sah noch einmal mit dem Feldstecher die Straße ab. Außer äsenden Rehen war nichts los. Die Sicherheit war gegeben. Das Dach des Schwimmbads war für die meisten Gefahren wie eine unüberwindbare Festung. Man kam nur auf zwei Wegen. Es gab eine Feuerleiter, die von Außen aufs Dach führte und es gab eine Stahltür, die nur von Innen geöffnet werden konnte. Und dann war da noch direkt neben der Tür das große Loch, dass Louisa mit einem Vorschlaghammer geschlagen hatte. Es hatte sie volle drei Stunden und jede Menge Kraft gekostet, aber nun hatte sie ihren persönlichen Eingang zur Schwimmhalle. 

 

Vom Loch kam man auf eine Tribüne. Dass seit zwei Jahren niemand mehr drin gewesen war, hatte sie gemerkt, als sie das erste Mal die Halle betreten hatte. Die südländischen Palmen-Pflanzen waren eingegangen, das Wasser war zum Teil verdampft und hatte gut 5cm an Höhe verloren. Auf den Liegen, auf dem 1-Meter-Sprungbrett, überall lag dichter Staub. Louisa zog die Springerstiefel aus, warf sie von der etwa 3,50 Meter hohen Tribüne hinunter in eine von ihr beim letzten Mal abgewischte Liege. Es bollerte hohl. Sie atmete tief ein, kontrollierte den Sitz ihrer Messer. Kurz überlegte sie, ob sie nicht doch lieber die Treppe nehmen sollte, kletterte aber entschlossen auf die Balustrade, brachte sich in der Hocke ins Gleichgewicht und sprang mit einem weiten Kopfsprung ins blaue Becken hinab. 

Ihr Kopf war völlig frei. Ihr Körper war nach zwei Jahren Schlafen im Freien dermaßen abgehärtet, dass ihr die unzähligen Keime im Wasser nichts mehr anhaben konnten. Sie machte wellenförmige Bewegungen über den Rücken kommend, berührte dabei fast den Boden. Trotz der körperlichen Anstrengung blieb sie ganz gelassen. Als sie merkte, dass ihr die Luft ausging, tauchte sie am Beckenrand wieder auf, drehte sich, machte mehrere gleichmäßige Züge hintereinander. Ihre Beine bewegten sich Scherenschnittartig. Man sah ihre Pobacken kräftig arbeiten, erkannte, wie sich ihr Rücken lang machte und ihr Becken rotierte. Zwischen den Zügen drehte sie den Kopf zum Atmen kurz seitlich links aus dem Wasser. Vierzig Minuten lang sah sie nur die dreckigen weißen Kacheln des Beckens. 

 

  1. Verlängerung der Perspektive

 

Sie lehnte sich an den Beckenrand, spannte ihr Kreuz an, ließ ihre Zehen aus dem Wasser baumeln. Das Dach über ihr war hübsch vertäfelt. Das Schwimmbad verfügte auch über eine Sauna, Umkleidekabinen, Duschen, jede Menge Technik, aber am besten gefiel ihr der Raum mit den Schaumstoff-Matten. Diese riesigen Matten, die immer im Schulunterricht zum Spielen verwendet wurden und ansonsten in ihrer dunklen Kammer rumstanden. Sie kletterte aus dem Wasser. Links von den Duschen gab es eine Tür zur Cafeteria, die sie gestern bereits aufgebrochen hatte. Ihre nassen Füße rutschten ein wenig in den Springerstiefeln. Louisa hatte ihr Handtuch der Einfachheit halber auf dem Dach gelassen. Sie wollte noch eine zweite Einheit nach dem Frühstück einlegen und dann war es ärgerlich, schon abgetrocknet zu sein.

 

Die Cafeteria war gleichzeitig der Eingang des Schwimmbads. Die Schiebetüren gingen nicht mehr auf, weil kein Strom floss. Auch versperrte dichtes Buschwerk den Weg nach draußen. Louisa holte sich eine warme Cola und ein paar Bonbons. Es wunderte sie, dass sie noch keine Tiere in der Halle entdeckt hatte. Sonst war die Natur gut darin gewesen, sich ihren Lebensraum zurück zu holen. Die belegten Brötchen in der Auslage waren immer noch unberührt, aber auch vergammelt. Eine Schicht aus grünen und weißen Pilzen hatte sich über die Theke gelegt. An den Wänden schien es zu schimmeln. Da die Lüftung ausgefallen war, wunderte es Louisa nicht.

 

Das Schwimmbad verkaufte auch Schwimmsachen. In Schaukästen boten sie Badeanzüge und Taucherbrille-Schnorchel-Sets an. Dazu noch ein paar oben zuziehbare Sportbeutel, die vor zwei Jahren modern gewesen waren, sowie bedruckte T-Shirts, Poolboys, Badelatschen und Flossen. Louisa blieb bei den Flossen hängen. Es gab sie in klangvollen Farben wie Signalrot, Anthrazit oder Neon-Grün. Ihre Größe 38 war auch dabei. Mit Flossen zu schwimmen, reizte sie schon lange. Sie konnte auf ihrer Reise keine mitnehmen, da ihr Rucksack bis oben hin voll war, aber für Zwischendurch würde es nie schaden, mit ihnen zu trainieren. Schuhgröße 38 war nicht so selten. Sie mochte ihre kleinen Füße. Als Mädchen hatte sie jede Menge Auswahl bei Schuhen. Außer Springerstiefel mit Stahlkappen. Es war ein echter Kraftakt für sie gewesen, einen ungeplünderten Arbeitskleidungsfachmarkt zu finden, der Stahlkappen-Schuhe Größe 38 führte.

 

Louisa riss die Verpackung auf. Sie zog das kalte Gummi über ihre Füße. Die Flossen klatschten lustig auf den Fliesen. Sie passte sich eine der rumliegenden Schwimmbrillen an und zog sie über die Augen. Sie ließ sich zurück ins Wasser gleiten. Es war total ungewohnt. Sie schwamm seit einem Jahr zum Ausgleich zum Alltag, seit Joshua tot war, aber mit Flossen ging es viel schneller, aber auch unsicherer. Sie würde wohl eine Weile brauchen, musste anders wenden lernen. Nach vier Bahnen hörte sie auf. Sie zog die Flossen noch im Wasser aus und warf sie neben die Bahn. Der Tag hatte noch viel mehr zu bieten. Sie stieg aus dem Becken und dehnte Arme und Beine vor dem staubigen Panorama-Fenster, den Blick nach draußen die Straße hinunter gerichtet.