Von Robert Pfeffer

Es begab sich also … in einem Blumencenter. Was für ein seltsamer Anfang. Aber dies sollte der erste Satz dieser Story sein. Es war Jimis Wunsch, als er mich bat, das mal alles aufzuschreiben.

 

Es begab sich also … klingt wie in einem alten Bibelschinken. Als wenn irgendetwas geschehen ist, worauf auch tausende von Jahren später die Welt noch schaut. In Genesis 1 heißt es ja: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ Über das „im“ wundere ich mich jedes Mal, wenn ich den Satz höre. Trotzdem, es heißt halt so und nicht „Im Blumencenter schuf Gott Himmel und Erde“.

 

Wie kam ich da jetzt drauf? Ach ja, Sprung ins Alte Testament, 448. Nachlieferung, Sternzeit Juli 1984. Aufzeichnungen des Theologiestudenten Winfried Hendricks, genannt Jimi, meines Mitbewohners im dritten Stock. Er hatte mir den Auftrag erteilt, in so einen Gartenmarkt zu fahren, weil er noch an einer Prüfungspredigt zu schreiben habe, wir aber für das Geburtstagsbesäufnis bei Bettina zwei Etagen unter uns eine Topfpflanze benötigten. Mein gesunder Menschenverstand sagte mir, dass man dafür vor allem Getränke brauchte, doch ich lernte ja gerne dazu. Es war der 17. Juli 1984. Ein Dienstag. Orwells Gedankenpolizei hatte mich gerade beim Verputzen einer extragroßen Portion Spaghetti Bolognese erwischt. Nicht das Essen an sich war strafbar, sondern mein Gedanke an Veronika aus dem Nachbarhaus. Bei Bolognese musste ich immer an sie denken. Ich glaube ja, dass nur bei gutem Essen das Gehirn zu echter Freiheit gelangt. Wenn der Genuss einem Wohlgefühle auf mehreren Ebenen verschafft, dann sind die Sinne frei für das, was wirklich wichtig ist. Frikassee zum Beispiel ist bei mir bis in alle Ewigkeit mit noch nicht gemachten Hausaufgaben verknüpft. Da machen Körper und Geist einfach dicht. Kennen Sie vermutlich. Doch ich schweife ab …

 

Die Gedankenpolizei jedenfalls verhaftete mich beim Gedanken an Veronika und ob sie auch zur Party kommen würde. Doch vor derlei Überlegungen haben der Herr und Jimi die Topfpflanze für Bettina gesetzt. Letztere vollendete ihr erstes Vierteljahrhundert und war der gelenkigste Homo sapiens, den ich kannte. Sie beherrschte den doppelten Schneidersitz, den weltweit wohl keine zweistellige Anzahl Menschen können und bei dem man die Beine und Arme gleichzeitig vor der Brust verschränkt. Dabei balanciert man auf gerade mal noch 15 Prozent seiner Arschfläche. Ihre Aussage, es handele sich um eine entspannte Haltung, halte ich bis heute für ein orthopädisches Ablenkungsmanöver. Ich denke außerdem nicht, dass dieser Sitz durch den üblichen Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung abgedeckt ist. Aber im Grunde war das ja nicht mein Problem. Eigentlich brauchte ich die verdammte Topfpflanze nur, um in Bettinas Wohnung bei und später vielleicht auch auf Veronika überhaupt landen zu können. Letztere bevorzugt übrigens normale Sitzhaltungen, was mir weit weniger verdächtig erscheint.

 

Also fuhr ich ins Blumencenter, während Jimi seine Ausführungen zu Jesaja 40, Vers 31 präzisierte. Was schenkt man einer Schlangenfrau, wenn man eigentlich eine andere abschleppen will? Männertreu? Goldlack? Jungfer im Grünen? Ich stand da zwischen all dem Gesträuch und wusste nicht ein noch aus. Als sich aus der Ferne Roswitha näherte. Roswitha Preiskorn. Ja ich, weiß, das ist jetzt schon der dritte Frauenname, aber was will ich denn machen? Es ist so passiert, also nehmen Sie es einfach hin. Ihr grüner Kittel beleidigte in seiner Derbheit eine darunter hervorleuchtende Bluse, die Männer als Violett und Frauen als Flieder bezeichnen würden. Doch diese Farbspielerei war nur ein kurzes Ablenkungsmanöver. Denn dann fragte mich diese Montserrat Caballet der Floristik, ob sie mir helfen könne. Ich könnte Ihnen jetzt was von engelsgleichen Stimmen erzählen, die in mein Ohr plätscherten wie das klare Wasser eines Gebirgsbaches an einem heißen Sommertag, aber Sie wissen ja selbst, was solche Klischees bewirken. Leser und vor allem Leserinnen schalten in den Pilcher-Modus. Zur Hölle damit, ich bleib ganz einfach bei dem, was geschah.

 

Sie fragte mich: „Wonach halten Sie denn Ausschau, junger Mann?“ Und das in einer Stimmlage, bei der ich unverzüglich über die Gegenfrage nachdachte, ob sie wohl hier und jetzt ihren Job aufgeben und mit mir eine Strandbar in Malibu eröffnen möchte. Doch es war, wie so oft: Wenn man einen Standesbeamten braucht, dann ist grad keiner da.

„Ich suche eine Topfpflanze für Bettina“, stotterte ich wahrheitsgemäß, aber auch nur deshalb, weil ich einfach zu überwältigt für etwas Geeigneteres war.

„Fangen wir mal mit dem Alter an“, versuchte sie den Beginn eines Verkaufsgesprächs.

„Also, ich dachte an eine junge Pflanze. Irgendwas so um die zwei Monate vielleicht.“

Es war nicht mal meine Absicht, sie damit zu erheitern. Vielmehr ruderte ich sowohl mental als auch emotional chancenlos in reißenden Wassern. Mein verkrampftes Gehirn versuchte, sich verzweifelt daran zu erinnern, wie jetzt noch mal genau der Beginn einer alle Grenzen sprengenden Romanze auszusehen hätte. Ich war kurz davor, innerlich zu pilchern.

Roswitha Preiskorn bebte derweil vor Lachen.

Als sie die Beherrschung wiedergefunden hatte, probierte sie es mit einer Mischung aus Professionalität und Einfühlungsvermögen. Und zerlegte mich damit in meine Einzelteile. „Eigentlich ging es mir mehr um das Alter von Bettina. Wissen Sie, wir sollten gemeinsam herausfinden, was Sie wollen.“

Hatte sie das gerade gefragt? Als ob nicht wüsste, was ich wollte, seit unser Gespräch angefangen hat! Und doch sind es die Momente, in denen einem so etwas wie ein Klaps zurück in die Wirklichkeit hilft. Dennoch, Roswithas letzter Satz war klanglich wieder wie eine Oper, bei der man sich vor Rührung am liebsten in die Hose machen würde. Wie bei Nessun dorma, wenn der Tenor am Schluss „Vincerò“ singt und alle Instrumente des Orchesters gleichzeitig über die Gefühle des Publikums herfallen. Wenn alles zwischen Triangel und Kontrabass die Tränenkanäle zu ergreifen und zu schütteln scheint: „Los, triefet, ihr müden Schläuche, triefet!“

 

Habe ich da gerade etwas übertrieben? Mag sein, aber es war so. Diese Stimme konnte sagen, was sie wollte. Sie war das Naturereignis, ich die kleine Kreatur. Roswitha hätte mich behandeln können wie ihre Blumen. Selbst wenn sie mich gegossen hätte … ich wäre dankbar gewesen. Um in ihren Bildern zu bleiben: Sie hatte mich entwurzelt. Sie war diejenige, die über meine Zukunft entschied: Kunde wird Kompost oder auf ewig Rose. Weitgehend sprachlos, ihre Fragen ehrfürchtig anhörend und nur mit Nicken beantwortend, folgte ich ihrer floralen Entscheidungsfindung. Sie wies mir, soweit ich das überhaupt noch in Erinnerung habe, abschließend den Weg zur Kasse und wünschte mir einen schönen Tag. Dabei hätte ich eine Verurteilung zu lebenslänglich Blumencenter in diesem Moment ohne Revision akzeptiert.

 

Bettina bekam schließlich eine Sanvitalia procumbens, „die in einer Ampel ein echter Hingucker ist.“ Es waren die letzten Worte von Roswitha, bevor ich den Laden verlassen hatte und auf diese Party gehen musste. Ich weiß nicht mehr, ob ich dort mit Veronika gesprochen habe. Soweit ich mich erinnere, stotterte ich Bettina neben einem abwesend dahingemurmelten Glückwunsch noch die Gießanleitung ins Ohr, um mich dann mit meiner eigenen Gießanleitung abzulenken. Jimi war das natürlich aufgefallen, doch in großer Runde wahrte er freundschaftliche Diskretion.

 

„Was war denn mit dir gestern los?“, fragte er, als mein Kater sich wieder streicheln ließ.

„Husarenknöpfchen. Das war los.“

„Ähm, wie meinen?“

„Sanvitalia procumbens. Sollte sonnig stehen und zweimal am Tag gegossen werden.“

Jimi überlegte sichtlich, wo sich der Anfang dieses Rätsels wohl verbarg und gelobte, dass er beim nächsten Mal ins Blumencenter gehen würde.

„Kommt gar nicht in Frage“, protestierte ich, „außer du kannst als Pastor schon Eheschließungen vornehmen. Dann darfst du mich begleiten.“

 

Ab dieser Stelle ist es auch für Jimi bis heute eine greifbare Erinnerung. Seine Prüfpredigt zu Jesaja 40, Vers 31 bestand er mit Bravour und selbst ich, der ich mit Religion so gar nichts anfangen kann, war bereit, darin den Ursprung meiner Ehe mit Roswitha Preiskorn zu sehen. Manchmal kommen die Dinge eben aus einer Ecke, aus der man nichts erwartet. Doch ich bekam neue Kraft, dass ich auffuhr mit Flügeln wie ein Adler. Ich lief ihr hinterher und wandelte, ohne matt zu werden. Klingt zu pilcherig? Dann lesen Sie mal bei Jesaja nach, der hieß vermutlich auch schon so mit Nachnamen.

 

(V1)