Von Talita Schönberg

„Wo befindest du dich gerade?“

„Ich … Ich bin in einer Bibliothek.“

„Das ist gut!“, denke ich. Bücher waren schon immer ihr bester Freund und die Bibliothek ihre Wohlfühlzone. Ich schaue auf meine Notizen und bin zufrieden. Genauso hatte ich es vorausgesagt. Alles verlief nach Plan.

 

 „Wie sieht es dort aus?“

 „Hier sind ganz hohe Wände mit Regalen und alle sind mit tausenden von Büchern gefüllt. Sie reichen bis an die Decke, die ich kaum noch erkennen kann. Dann sind da noch 3 riesige Tore.“ Ich denke einen Augenblick nach. Wir mussten gleich das richtige Tor wählen, um keine Zeit zu vergeuden.

 „Sehen die Tore alle gleich aus?“

Auch sie zögert einen Augenblick, bevor sie antwortet: „Nein, das rechts ist aus Holz, das in der Mitte aus Stein und das links scheint aus Eisen zu sein.“

Ich atme beruhigt aus. Wir waren wieder auf Kurs. „Ist die Holztür abgeschlossen?“

„Ich weiß nicht, ich bekomme sie nicht auf …!“

„Hast du Angst?“ Ich versuche die Lage zu peilen, um meine Strategie anzupassen.

„… Ja, ein bisschen schon. Ich weiß nicht was dahinter auf mich wartet. Was wenn ich das nicht bewältigen kann?“

Ich versuche einen beruhigenden Tonfall zu finden und antworte: „Du bist nicht allein, ich werde dich die ganze Zeit begleiten! Egal was auch kommen mag, was du hören, sehen oder fühlen wirst, du bist stark und stehst das durch. Es ist vergangen und kann dir nicht mehr anhaben.“

Sie atmet tief ein. „OK vielleicht kann ich sie öffnen, wenn ich ganz fest schiebe!“

„Was siehst du?“

„Es ist dunkel hier, aber ich sehe einen Schreibtisch direkt unter dem kleinen Fenster und einen Schrank, einen Nachtisch, ein Bett und …“

Ich merke wie sich ihr Körper verkrampft und wiederhole sofort wie ein Mantra meinen Satz: „Du bist nicht allein, ich werde dich die ganze Zeit begleiten!“

Sie atmet tief ein und flüstert: „Es ist mein Poster mit dem weißen Pferd das Flügel hat. Ich habe das schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Es hing in meinem Kinderzimmer über dem Bett und ich habe es jede Nacht vorm Einschlafen angesehen und mir gewünscht mit ihm hoch über den Wolken zu fliegen.“

Ich warte einen Moment, um ihr Zeit für die Erkenntnis zu geben, die laut meinen Berechnungen bald eintreffen müsste.

„Das ist mein altes Kinderzimmer!“

Und da war sie auch schon, die Erkenntnis auf die ich gehofft hatte. Ich beobachte sie genau und erkundige mich: „Wie fühlst du dich?“

„Ich verstehe das nicht. Warum bin ich hier? Und warum ist hier alles so dunkel und staubig?“ Konzentriert betrachte ich meine Notizen und formuliere im Kopf meine Antwort. Wir befanden uns an einem wichtigen Scheidepunkt und ich durfte jetzt auf gar keinen Fall etwas Falsches sagen. „Dein Unterbewusstsein hat dich dorthin geleitet. Im bewussten Zustand fällt es uns oft schwer die Zeichen und Wünsche des Unterbewussten zu bemerken und zu deuten. Wenn man sich öffnet und versucht in sich hineinzuhören, dann können wir uns mit dem Unbewussten verbinden und ungeahnte Kräfte in uns wecken. Wir nehmen die versteckten Zeichen wahr. Das, was du hier findest, könnte der Grund für deine Schlafstörungen und die schlimmen Träume sein, die dich Quälen. Dein Unterbewusstsein gibt dir die Chance der Sache auf den Grund zu gehen und vielleicht etwas zu verändern. Möchtest du etwas ändern?“

 

 Ihre Hände sind zu Fäusten geballt und zittern vor Anspannung. Auf ihrem Arm kann ich die kleinen Erhebungen der Hautoberfläche sehen und wie durch die Gänsehaut die kleinen Härchen zu Berge stehen. Dieses Zusammenspiel von Körper und Geist, bewusstem und unbewusstem, Fantasie und Realität, all das faszinierte mich jede Male auf Neue. Und immer, wenn ich diese Reise mit einem Patienten antrat, wurde mir die Grenzenlosigkeit des Bewusstseins bewusst. Je öfter ich mich auf diese Reise durch die grenzenlose Welt des Bewusstseins begab, desto mehr änderte sich für mich die Vorstellung von dem, was wir sind. Ich beuge mich vor und berühre ganz sacht ihre Hand. Meine Wärme geht auf sie über und langsam spüre ich wie sie sich entspannt, die Fäuste lockert und ihre Atmung sich beruhigt. Manchmal reichte auch schon diese kleine Geste aus, ohne dass ich noch etwas dazu sagen musste. Ich war mir sicher, dass sie dort wo sie jetzt war, meinen Mantra-Satz vernehmen würde.

 

„Ja, ich möchte etwas ändern!“, flüstert sie leise. „Ich habe immer noch Angst, aber ich möchte die Chance nutzen. Soweit bin ich noch nie vorgedrungen.“

Ich drücke noch einmal ermutigend ihre Hand und lehne mich wieder zurück. Ein kurzer Blick in mein kleines Büchlein gibt mir Sicherheit und ich frage: „Was fällt dir auf im Raum, ist etwas besonders oder anders als du es in Erinnerung hast?“

 „Es ist so staubig hier!“

 „Du hast diese Zeit scheinbar verdrängt, hast den Ort verlassen, warst schon eine Weile nicht mehr hier in Gedanken.“

 „Der Mond scheint direkt auf den Nachtschrank, an den kann ich mich gar nicht mehr erinnern.“ Ich werde hellhörig, versuche meine Aufregung hinter einem beruhigenden Tonfall zu verbergen. „Schau ihn dir doch mal näher an!“

 „Hier ist eine Schublade.“

Ich komme mir vor wie in einer dieser TV-Hypnosetherapeuten und trotzdem sage ich klischeehaft: „Wenn du bereit bist, öffne die Schublade.“

Ihre Atmung wird flacher und ich gerate selbst ein wenig unter Anspannung, kann die Stille kaum ertragen, möchte sie aber auch nicht unterbrechen. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit sagt sie: „Ich kann darin mich sehen, als Kind meine ich. Ich liege im Bett und Schlafe. Da, die Tür geht auf.“ Fast halte ich die Anspannung nicht mehr aus und muss mir Mühe geben nicht aufgeregt nachzufragen, was da gerade vor ihrem inneren Auge passiert.

 „Das ist meine Mutter, sie weint leise, kniet sich vor mein Bett, nimmt meine Hand und schaut hinauf zum Mond. Ich glaube, sie betet.“

 

Tränen laufen an ihrem Gesicht herab und doch wirken ihre Gesichtszüge weicher. Aus unseren Vorgesprächen und Sitzungen weiß ich, was mit ihrer Mutter geschah. Ich merke, wie auch mir ein Kloß im Hals sitzt und ergreife erneut ihre Hand.

 „Ich erinnere mich wieder. Sie hat das öfter gemacht. Nacht für Nacht. Sie war immer wie ausgewechselt. Tagsüber hat sie gelächelt und gescherzt, wenn sie den Haushalt erledigte und mit mir spielte, doch Nachts, nachts war sie nicht mehr fröhlich. Sie war unglücklich, wirkte immer gequält, konnte nicht schlafen. Ich erinnere mich. Oh Gott wie konnte ich das nur vergessen?“

„Du warst klein, zu klein und konntest mit solcher Last gar nicht umgehen. Du hast es verdrängt, um dich zu schützen.“ Ich höre ihr leises Schluchzen, kann sie durch meinen eigenen Tränenschleier kaum erkennen.

 „Eines Nachts ist sie nicht gekommen, ich bin sie suchen gegangen, sie saß im Lesezimmer und war so kalt. Das war das einzige Mal, dass sie nicht traurig wirkte bei Nacht. Sie hat nie wieder nachts an meinem Bett gekniet und Papa hat nie wieder über sie geredet.“

 

Fest drücke ich ihre Hand. Wir hatten es geschafft. Hatten die erste Hürde der Reise genommen. Der Weg war noch weit und es lagen noch einige Steine auf dem Weg der Verarbeitung, aber der Anfang war gemacht.

„Komm, verlass diese Erinnerung, geh zurück an den Ort wo du dich wohlfühlst. Atme tief ein und nehme dich selbst wahr, vom Scheitel bis zum kleinen Zeh. Atme aus und nehme wahr, was du hörst, was du schmeckst. Komm wieder an im Hier und Jetzt. Konzentriere dich auf meine Stimme. Ich werde bis drei zählen und bei drei öffnest du deine Augen und lässt die Vergangenheit hinter dich. Du fühlst dich frei und entspannt und bist bereit für Veränderungen. Lass los und komm an im Hier und Jetzt in 1-2-3 …“

 

V1