Von Marianne Apfelstedt

Schnaufend wie eine Lokomotive lief ich die Straße zu unserem Haus hoch. Die Unruhestifterin trottete hinter mir her. Zuhause bei Chris, meinem Göttergatten ließ ich Dampf ab. Er saß mit einer Tasse Kaffee am Küchentisch. 

„Die ist ausgeflippt! Ich konnte sie kaum halten!“ 

„Was ist denn genau passiert?“, fragte er und schob mir Milchkaffee über den Tisch.

„Wir gingen die Straße entlang, Verena kam uns mit Kinderwagen und Hund entgegen. Ich nahm die Hundeleine kurz, um an ihnen vorbeizulaufen. Nelly hat gebellt und alle Haare aufgestellt. Da habe ich sie am Geschirr gepackt, sie ist fletschend an mir hochgesprungen. Meine Jacke hat einen Riss, ich bin nicht sicher, ob sie mich beißen wollte, oder nur mit den Zähnen hängengeblieben ist. Auf jeden Fall gehe ich nicht mehr ohne Maulkorb mit ihr nach draußen.“ 

Mir war zum Heulen zu Mute. Sie kam zu uns, ein kleines Fellknäuel, ein Collie-Mischling. Jetzt hatte sie sich zu einem Herdenschutzhund von 38 kg ausgewachsen, der aggressiv wurde, wenn ein Artgenosse unseren Weg kreuzte. Durch die Angst, sie könnte sich losreißen und jemanden verletzen, geriet ich zunehmend in Panik, sobald beim Gassigehen andere Vierbeiner auftauchten. Gedankenverloren rührte ich im Kaffee, der abkühlte wie meine Wut. 

„Bei unserer Hundeschule gibt es einen Kurs, körpersprachliches Training mit Hunden, die nicht leicht zu führen sind. Ich melde uns an. Wirst sehen, das wird wieder besser“, munterte er mich auf und kraulte das Monster am Kopf, das mir fragend mit seinen braunen Augen entgegenblickte. Verflixt, jetzt sieht sie total friedlich aus. Was lief nur schief? Ich saß auf dem Boden, Nelly kam angelaufen und legte sich dicht neben mich, beim Streicheln des seidigen Fells entspannte ich, genau wie die schnarchende Fellnase.

 

„Guten Morgen. Die Hunde bleiben erst mal im Auto. Wir unterhalten uns zuerst über den Ablauf des Seminars“, informierte Ina, die Leiterin der Hundeschule. Dann stellte sie die zweite Trainerin vor, Hilke.

„Zuerst gibt es eine Kennenlern-Runde, gefolgt von Partnerübungen. Später schaue ich mir die Teams einzeln an“, erklärte diese.

„Die Vorstellung übernimmst am besten du“, flüsterte mir Chris ins Ohr. Der Stein in meinem Magen wuchs zum Felsbrocken. Vor diesen fremden Menschen wollte ich nicht in Tränen ausbrechen und zugeben, dass ich mit unserem Junghund nicht klarkam, trotz 13 Jahren Schäferhunderfahrung. Die Vorstellungsrunde schritt voran und ich bemerkte, dass jedes Team andere Probleme hatte.

„Nelly bekamen wir mit 10 Wochen vom Tierschutzverein. Uns wurde gesagt, ihre Mutter sei ein Colliemix vom Bauernhof aus der Nachbarschaft. Erst bei Ina in der Hundeschule stellte sich heraus, dass sie ein Herdenschützer ist. Sie verhält sich aggressiv bei anderen Hunden und Menschen, deshalb trägt sie einen Maulkorb. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass Nelly friedlich an der Leine läuft, egal wer uns begegnet.“ 

„Nicht zu glauben, dass diese Hunde immer wieder vermittelt werden, ohne vorher aufzuklären“, empörte sich einer der Teilnehmer.

 

„Paula, geh mit Nelly an der lockeren Leine zu den Birken.“ Hilkes Instruktionen waren dank des Headsets klar zu hören. „Jetzt kehr um, direkt auf uns zu.“

Wir drehten um und sahen bei ihr zwei Hunde, mit denen sie spielte. Nelly sträubte die Nackenhaare, bellte und sprang in Richtung der Artgenossen. Ich hielt sie fester, zerrte an der Hundeleine und lief schnell weiter. Komm endlich! Hektisch zog ich die Widerspenstige hinter mir her. Jetzt ging es durch die Absperrgitter für den Radweg. Mist! Unbekanntes macht sie nervös. 

„Nochmal zurück, nimm sie mit. Mach ihr klar, dass du weißt, was du tust! Du bist zu zaghaft“, kommandierte Hilke.

Bei jeder Anweisung wurde ich fahriger, war mir der Blicke der Anwesenden, die wie Kaugummi an mir klebten, bewusster.

„Ok! Das reicht fürs Erste.“ Endlich waren wir erlöst. „Führ Nelly ab jetzt immer dual, an Halsband und Geschirr eingehakt, so ist sie sicher.“

Am Ende nahm uns Hilke auf die Seite. 

„Du bist zu zaghaft, Nelly hat ständig die Menschen um euch herum anvisiert. Das ist gefährlich! Deine Unsicherheit überträgt sich auf sie, damit drängst du sie in die Beschützerrolle. Morgen beim Coaching musst du meinen Anweisungen exakt folgen.“

Nachts lag ich stundenlang wach, ließ den Tag, wie einen Film an mir vorüberziehen. Was braucht Nelly? Ich wollte, dass sie bei uns bleiben konnte, die Alternative wäre das Tierheim. Der Morgen graute und mein Entschluss stand fest, zu dem Menschen zu werden, den sie forderte.

 

Im Laufe des Vormittags sahen wir den anderen Teams zu, wie sie gecoacht wurden. Kurz vor Mittag waren wir dran, ich bekam Kopfhörer. Sie schärfte mir nochmal ein, ihren Anweisungen zu folgen.

„Lauf geradeaus, lass die Leine immer locker. Schau nur nach vorn, geh deinen Weg.“

Nelly sah den fremden Hund und zog bellend vor mir rüber Richtung Artgenosse. 

„Schneid ihr den Weg ab, lauf in sie rein, Leine locker nicht zerren. Das ist dein Raum, dräng sie zurück.“

Ich lief auf sie zu, schnitt ihr den Weg ab. Nelly war abgelenkt und sah zu mir hoch.

„Verschaff dir Platz, lass sie nicht zu diesem Hund.“

Alles ausblendend bedrängte ich sie weiter und weiter. Vor mir das Fellbündel mit Maulkorb und gefletschten Zähnen, das sich trotz der Begrenzung wehrte und an mir hochsprang. Stimme im Ohr, Reaktion. Körper gegen Körper. Mir brach der Schweiß aus, Kraft zerrann wie Eis in der Sonne.

„Schieb sie zurück. Nicht nachgeben, bleib dran, immer wieder!“

Unzählige Male wiederholte ich die Prozedur. Zuletzt jaulte sie, trotzdem flog sie gegen mich. Meine Kräfte reichten kaum zum Laufen. 

„Ok, sie hat genug. Leine locker. Durchatmen! Nimm deinen Hund mit zu den Bäumen. Geh eine kleine Runde mit ihr und gib ihr Wasser.“

Endlich. Bin am Ende. An den Wangen spürte ich Nässe. Tränen? Nelly hechelte und schlich kraftlos neben mir her. Ich nahm ihr den Maulkorb ab, langsam trotteten wir außer Sichtweite. Ich sank auf einen großen Stein. Sie setzte sich direkt vor mich. Wir schauten uns stumm in die Augen, erschöpft. Ich legte die Arme um den kräftigen Hals, Stirn an Stirn wurde unser Atem ruhig. Ich wischte mir schon wieder Tränen von den Wangen, die sie mir von den Händen leckte. Chris wartete am Auto, mit Wasser für uns. Als Nelly im Kofferraum auf der Decke lag, nahm er mich tröstend in den Arm.

**

Entspannt schlenderten wir den gewohnten Weg entlang und ich bewunderte ihre Anmut. Weit voraus entdeckte ich etwas Braunes, dass beständig näherkam. Konstant trabend, laut bellend mit aufgestellten Ohren und ohne Leine flitzte die Rhodesian Ridgeback Hündin Mina auf uns zu. Mist, ausgerechnet Nellys Lieblingsfeindin. Ich verkrampfte mich. Mein Puls rannte davon, die Hand feucht wie ein Spülschwamm hielt die Hundeleine fester.

„Nelly, Sitz!“, tönte das Komando eine Oktave zu hoch und aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich Rute und Ohren aufrichteten. Ich zerrte die Leine mit samt der dazugehörigen Fellnase hinter mich in den grasbewachsenen Straßenrand. Breitbeinig stand ich vor ihr, bereit, die fremde Hündin in die Flucht zu schlagen. Atem strömte tief in den Bauch und endlos heraus. Der Abstand verringerte sich. Ich wurde ruhig, blickte nach vorn. Die Hunde taxierten sich von weitem. Nelly bellte, stellte die Haare im Nacken auf und schob sich an mir vorbei. Ich drängte das Kraftpaket zurück.

„Lass das!“, schrie ich und trat auf die Leine. „Platz!“

Mina kam näher, hinter mir hörte ich Nelly knurren.

„Hau ab!“, brüllte ich der braunen Hündin entgegen, stampfte mit einem Bein auf dem Asphalt auf. Verunsichert stoppte sie.

„Mina! Hiiiiier…“, rief ihr Frauchen, das mittlerweile das Fahrrad abgestellt hatte und jetzt nochmal freundlich Mina herbeirief. Endlich trottet die Hündin zurück. Langsam entwich die angehaltene Luft. Ich forderte von Nelly, die aufstand, ein Platz ein, ließ die Leine liegen und stellte mich vor meinen Hund. 

„Lass es“, fauchte ich sie an, um zu klären, dass sie das andere Pärchen nichts anging. 

„Entschuldige Paula. Ich habe euch zu spät gesehen, normalerweise rennt sie nicht weg.“

„Ist ja nichts passiert. Die zwei Zicken. Hast du mal Zeit für einen gemeinsamen Spaziergang? Wir können nochmal üben, damit sie sich aneinander gewöhnen.“

„Einen Versuch ist es wert. Bei mir geht es morgen um 9.00 Uhr.“

„Super, bis dann!“ Ich nahm Nellys Leine auf, führte sie nah bei mir an beiden vorbei, sie schaute zurück. 

„Wage es ja nicht!“, herrschte ich sie an, die Rute rutschte auf halbmast und wir liefen weiter. Ich drehte ruckartig um, um nochmal an dem Pärchen vorbeizulaufen, jetzt klappte es vorbildlich.

„Feines Mädchen“, lobte ich und spendierte ein Leckerchen.

Zuhause inspizierte Nelly unseren Garten. Mit einer Tasse Kaffee saß ich auf dem Rasen, schwanzwedelnd trabten 38 Kilo ungestüm auf mich zu. Im Sonnenlicht schimmerte das weiße Fell seidig. Meine Hände vergruben sich im weichen Haarkleid und liebkosten den muskulösen Körper. Nelly entspannte sich und legt sich dicht neben mich. Ihr Kopf ruhte gelassen auf meinem Oberschenkel und aus ihren braunen Augen strahlte grenzenlose Liebe.

 

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