Von Claudia Grothus

Ich war einundzwanzig, als ich wirklich dringend Geld verdienen musste. Das Bafög reichte so gerade, aber ich schuldete meinem Freund, der mich gerade erst verlassen hatte, noch fünfhundert Mark. Scheißsituation, denn ich liebte ihn natürlich noch und er brauchte die Kohle zurück. Also suchte ich mir einen Job, was nicht einfach war, denn in der Generation Boomer war es völlig egal, was man wollte – tausend andere hatten es schon vor einem gewollt.

Über die Studenten-Jobvermittlung landete ich dann für drei Wochen in einer Druckerei. Das hieß: fünf Uhr aufstehen, viertel vor sechs losgehen, fünf nach sechs in den Bus steigen, sieben Uhr anfangen, bis halb zwei arbeiten und um vier wieder zuhause.

Aufstehen vor sieben Uhr war für mich eigentlich Körperverletzung. Alles sträubte sich dagegen, besonders mein Magen. Aber es gab satte 90 Mark pro Tag. Das war viel Geld.

Meine Aufgabe war, stundenlang mit einem feuchten Schwamm in der Hand, an einer riesigen Druckmaschine zu stehen und jedes Mal, wenn die Walze zurückgefahren war, einmal mit dem Schwamm über die Platte zu wischen. Das war so ein ganz neues Spezialverfahren für Werbeplakate, die von hinten beleuchtet werden konnten. An den modernen Bushaltestellen konnte man das jetzt überall sehen.  

Also: Walze hin, Walze her, wisch, wisch. Unfassbar langweilig. Der Drucker, dem ich zugeteilt war, war gleichzeitig der Vorarbeiter in der Halle. Er war so Mitte vierzig mit einem runden Gesicht und roten Haaren, wirkte ziemlich seriös, war höflich und distanziert. Die Drucker an den anderen Maschinen in der Halle waren viel netter. Egal. Walze hin, Walze her, wisch, wisch.

Wenn unsere Walze mal stillstand, weil eine neue Platte draufkam, dann bekam ich andere Aufgaben. Zum Beispiel wurde ich durch das breite, verglaste Terrazzo-Treppenhaus nach oben in die „Entwicklung“ geschickt. Das war ein Großraumbüro mit einzelnen Parzellen und da arbeiteten die besseren Leute. Die hatten Anzughosen und Hemden an und fanden sich rasend toll. Sie waren die Kings, sie waren die in der oberen Etage! Aber in erster  Linie waren sie die totalen Schweine. Ich hatte nämlich in jeder Parzelle den Müll einzusammeln.

Da stand neben jedem Schreibtisch ein Papierkorb, der nur halb gefüllt war, aber überall drumherum lagen zerknüllte Blätter, Bananenschalen, abgegessene Äpfel, Schokoladenpapier, Bäckertüten und leere Zigarettenschachteln. Anscheinend ereiferten die sich alle in einem vollkommen talentbefreiten Zielwerfen auf die Mülleimer und fühlten sich umso cooler, wenn die Aushilfs-Studentinnen ihren Müll aufsammeln mussten.

Sie machten sich einen Spaß daraus, mich auf meiner Runde mit Kommentaren, Pfiffen, weiteren misslungenen Zielwürfen auf ihre Mülleimer und widerlich anzüglichem Grinsen zu nerven.

Ich war, glaube ich, damals schon ganz gut darin, ein Pokerface aufzusetzen. Ihr blöden Wichser, dachte ich die ganze Zeit nur und sammelte stoisch den Müll auf. Dass ich weder rot wurde, noch mich sonst wie aus der Fassung bringen ließ, schien diese Typen aber nur noch mehr anzustacheln.

Total abgenervt kehrte ich zu den Underdogs in der Arbeiterabteilung zurück. Als ich durch eine Halle mit meterlangen Regalen ging, die irgendetwas lagerten, was mich für die paar Wochen jetzt auch nicht weiter interessierte, saß da an einem Behelfsschreibtisch mein Vorarbeiter auf einem Drehstuhl, hielt einen Telefonhörer an sein Ohr und säuselte: „Ich liebe dich auch, mein Schatz!“

Hä?! Ey, der war älter als vierzig und so viel ich wusste, hatte er erwachsenen Kinder! Aber als ich mich umdrehte, stand da Peter, der verschmitzte Drucker der Nachbarmaschine. Er sah meinen Gesichtsausdruck, winkte mich zu sich in die Halle und sagte, das Geräusch der Walzen übertönend: „Der telefoniert mit seiner Geliebten. Kann er ja von zuhause aus nicht.“

So war das also. Der Vorarbeiter, der immer so seriös war, betrog seine Frau. Als ich wieder mit dem Wisch-wisch beschäftigt war, beobachtete ich heimlich meinen temporär Vorgesetzten. Der sah echt nach nix aus! Gut, mit einundzwanzig hat man sehr spezielle Vorstellungen von einem angesagten Typen, aber dass so ein spackes Männchen mit Mondgesicht, vollen Lippen, roten Haaren und der langweiligsten Brille der Welt eine Geliebte haben könnte, das ging mir nicht in den jugendlichen Kopf.

Mein Vater hatte auch eine Geliebte, bevor meine Mutter ihn vor drei Jahren rausgeschmissen hatte. Aber mein Vater war ein echt smarter Typ. Sportlich, attraktiv, charmant, lustig – ich hatte es nie fertiggebracht, wirklich sauer auf ihn zu sein. Mein Vater hätte diese ganzen Luschen hier in der Druckerei mit links in die Tasche gesteckt!

Manchmal, wenn ich die Kannen mit dem Lösungsmittel nachfüllen musste, kam ich bei Peter an der Maschine vorbei. Peter war nicht die hellste Kerze auf der Torte, das merkte man sofort an seiner Sprache und seinen Themen. Aber er war ein total lieber Kerl. Er hatte eine kleine, schwerbehinderte Tochter und er tat alles für sie. Außerdem war er nach Feierabend Künstler. Er tropfte übriggebliebene Druckerfarben auf übriggebliebenes Papier, legte ein anderes Papier drauf und zog es dann in eine Richtung ab. Die Bilder sahen wirklich toll aus. Der Direktor schmückte sogar sein Büro damit. Und Peter war da total stolz drauf, obwohl er nie auch nur eine Mark dafür gesehen hatte. Er schenkte mir eins seiner Bilder, das lange in meiner Studentenwohnung hing und mich daran erinnerte, wie Chefetagen mit der Handwerkskunst ihrer Arbeiter so eine gönnerhafte Scheinsolidarität demonstrieren.

Was mir wirklich schwer fiel, war das mit dem Essen. Früh morgens zuhause brachte ich nichts runter. In der Druckerei gab es in der Frühstückspause nur so einen kleinen Stand mit fettigen Teilchen und fettigen belegten Brötchen. Davon wurde mir oft schlecht, besonders wenn ich vorher mit leerem Magen Lösungsmittel umgefüllt hatte. Aber irgendwas musste ich essen. So organisiert, mir morgens ein paar Brote zu schmieren, war ich noch nicht.

Einmal wurde ich für ein paar Tage an eine andere Druckmaschine versetzt. Der Drucker dort war sympathisch und locker und er flirtete mit mir. Also auf die Nette, nicht wie diese Vollidioten oben in der Entwicklung. Ralf war ein Kumpel, witzig, gut gelaunt. Er hatte Frau und Kind. Wir kamen in unserem Geplänkel irgendwann auf Figur und Frauen. „Meine Frau redet immer nur vom Abnehmen“, sagte er. Ich, total welterfahren, wie ich glaubte zu sein, sagte: „Dabei hat sie das bestimmt gar nicht nötig, oder?“ Ralf verzog den Mund. Später erfuhr ich von Peter, dass Ralfs Frau extrem dick war und einen Deko-Tick hatte.

In der zweiten Woche bekam ich zwei Kolleginnen. Auch Studentinnen und total lustige, hellblonde Mädels. Wir hatten viel Spaß zusammen, wenn wir die Druckwalzen mit Lösungsmittel schrubbten oder draußen im Container springend und hüpfend den Papiermüll zusammenstauchten, damit noch mehr reinpasste. Die anderen Mädels bekamen es beim Müllsammeln in der Entwicklung noch dicker als ich und hatten regelrecht Panik vor dieser Aufgabe.

Manchmal traf ich in dem gläsernen Treppenhaus so einen Schnösel, der wohl kurz unter dem Chef stand. Er trug immer einen kompletten Anzug mit Krawatte und allem und die Pfeifen aus der Entwicklung katzbuckelten vor ihm.

Einmal ging dieser Lackaffe – was mir sehr unangenehm war – zwei Meter hinter mir die Treppe rauf. „Haben Sie mal Ballett gemacht oder sowas?“, sprach er mich an. Spinnt der?

„Nein“, antwortete ich, so kühl ich es eben hinbekam. „Ich bemühe mich nur um eine aufrechte Haltung.“

Meine Doppeldeutigkeit war natürlich vollkommen an diesem Schwachmaten vorbeigegangen, er laberte nur irgendwas von einem „edlen Gang“. Kotz!

Jedenfalls begann dieser Typ, mir nachzustellen. Beorderte mich in sein Einzelbüro, um den Papierkorb zu leeren und Flecke vom Schreibtisch zu wischen. Er versuchte, bescheuerte Gespräche mit mir anzufangen und schlug mir tatsächlich vor, für das doppelte Geld seine persönliche Aushilfe zu werden.

Ich wich aus. Nie, NIE! würde ich für so einen Schmierlappen irgendetwas tun. Da konnte er mir so viel Kohle bieten, wie er wollte. Und das ließ ich ihn auch durch die Blume wissen.

Aber wie das in Schmierlappen-Kreisen so ist, stachelte ihn das nur noch mehr an.

Eines Tages, kurz vor meinem letzten Arbeitstag, wurde ich, aus der Frühstückspause heraus, wieder in sein Büro beordert. Ich hatte gerade so ein Brötchen mit einer ein Zentimeter dicken Butterschicht gegessen.  

In dem Büro war überhaupt nichts zu tun, außer dem obligatorischen Mülleimerleeren. Als ich unter dem Schreibtisch zusammengeknüllte Papiere zusammenklaubte, lehnte dieser Typ sich von seinem Bürostuhl aus über mich und sagte: „So, jetzt wollen wir mal zur Sache kommen, Schätzchen!“

Es war mein Magen, der nicht abgewartet hat, was genau der Typ damit meinte. Ich kotzte im Strahl in den Mülleimer. Schmierlappen sprang mit einem entsetzten Ausruf auf, so dass sein Bürostuhl richtig mit Speed gegen die Wand rollte. Und während ich merkte, dass da noch ein Schub kommen würde, fühlte ich schon so ein Frohlocken. Als alles raus war, stand ich auf, nahm den Mülleimer und knallte ihn auf seinen Schreibtisch.

„Und das ist meine Antwort, Schätzchen!“ sagte ich.

Während der Busfahrt zurück nach Hause bekam ich das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht und liebte mich krass dafür, dass mein Körper seine ganz eigene Sprache gefunden hatte.

 

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