Von Andreas Schröter

Ich habe immer noch Kontakt zu meinen Schulfreundinnen und -freuden. Wir treffen uns mindestens alle zwei Monate oder so. Nachdem Berufliches und der Beziehungsstatus der Teilnehmer auf den neuesten Stand gebracht ist und nachdem jeder die Fotos der lieben Kleinen oder vom letzten Thailand-Urlaub gesehen hat, kommt bei diesen Treffen irgendwann das Thema „Bernhard Klein“ auf. Immer.

„Hat Bernd eigentlich inzwischen eine Freundin?“, ist meist die Frage, mit der das unvermeidliche Gespräch über ihn beginnt.

„Soweit ich weiß, nicht“, lautet die Standardantwort. Und mittlerweile sind wir alle über 50.

Und so geht‘s dann weiter: „Komisch eigentlich, er sah doch ganz gut aus.“

„Na gut, er war manchmal etwas stockfischig.“

„Na ja, nicht immer.“ Das ist dann genau der Moment, in dem sich die ersten das Lachen nicht mehr verbeißen können. Andere dagegen fangen an, traurig zu gucken. Ihre Blicke tadeln die, die mit dem dringenden Lach-Bedürfnis zu kämpfen haben. Das ist kein Wunder, denn schon immer hat das eine besondere Ereignis, auf das das Gespräch unweigerlich zusteuert, für beide Reaktionen gleichermaßen gesorgt.

Wie soll ich Ihnen Bernhard Klein beschreiben? Er sah früher in unserer Schulzeit gut aus – genau! –, schlank, groß und mit gut ausgeprägtem Bizeps. Aber er war schüchtern und ein Einzelgänger. Die Pausen verbrachte er meist allein irgendwo in einer Ecke. Oft fragte er die Lehrer, ob er nicht im Klassenraum bleiben dürfe, ihm sei schlecht. Oder er schloss sich auf dem Klo ein.

Aber wenn ich sage, er sei schüchtern, dann stimmt das gar nicht hundertprozentig. In manchen Situationen sagte er dann doch laut und deutlich seine Meinung. Nur waren das oft Momente, die nicht recht geeignet waren, seine Ansichten zum Besten zu geben, um es mal so zu formulieren. Er hatte einfach kein Gespür für Situationen oder Stimmungen. Etwas, das in jenem Ereignis, von dem noch zu sprechen sein wird, auf geradezu bizarre Weise eskalierte. Heute denke ich manchmal, er hatte bestimmt irgendeine milde Form von Autismus oder wie heißt diese andere Krankheit, bei der man keine Stimmungen einschätzen kann? Asperger-Syndrom.

Beispielsweise sagte er einmal beim Trauermahl für einen verstorbenen Metzger, zu dem er als Nachbar eingeladen war, er finde es nicht gut, dass hier Fleisch serviert werde. Ob denn niemand an das Tierwohl denke. Die in Tränen aufgelöste Familie starrte ihn entsetzt an (obwohl sich die Metzgerstöchter tatsächlich nur wenige Monate später gänzlich vom Fleisch-Verzehr abwandten und Veganerinnen wurden).

Ein anderes Mal schleiften ihn ein paar esoterisch ausgerichtete Klassenkameraden in einen Kurs für indische Meditation. Während die Teilnehmer andächtig in ihr Innerstes lauschten, meinte Bernd: „Habt Ihr eigentlich auch das Gefühl, dass es hier nach Schweißfüßen riecht?“

Irgendwann kamen wir natürlich alle in das Alter, in dem es wichtig wurde, die ersten sexuellen Erfahrungen zu sammeln, vielleicht sogar einen Freund oder eine Freundin zu haben. Allein schon, um gegenüber den anderen nicht als minderwertiger Loser dazustehen.

Klar, dass sich dieses Unterfangen für Bernhard „Bernd“ mit seiner ganz besonderen Art nicht unbedingt als einfach erwies.

Nun ja.

Zwei Dinge, die zu jener Episode führten, die ich die ganze Zeit erzählen will, fielen auf äußerst unglückselige Weise zusammen: Erstens: Bernhard verliebte sich unsterblich in die kleine Shaoh. Ihre Eltern waren irgendwann aus Japan eingewandert, um hier ein japanisches Sushi-Restaurant zu betreiben, und Shaoh hatte wirklich die allersüßesten Mandelaugen, die man sich vorstellen konnte. Insofern konnte man Bernd absolut verstehen. Wenn ich nicht damals schon mit der rotzfrechen Bea liiert gewesen wäre, die immer Blasen mit ihrem Kaugummi machte, hätte ich mich bestimmt selbst in Shaoh verliebt.

Zweitens hatte Bernd in jenem Herbst einen Nebenjob angetreten, der ihm ein paar Mark einbrachte – er sparte auf ein Mofa. Er ließ sich zweimal die Woche als Monster schminken, um um Halloween herum in der Dämmerung im Movie-Park in Bottrop-Kirchhellen Leute zu erschrecken. Er mochte den Job. Erstmals fühlte er sich unter den Vampiren, Zombies, Untoten und kalkweißen Damen anerkannt und nicht als der Fremdkörper, als der er sich in der Schule immer vorkam. Das mochte daran liegen, dass sein Kostüm besonders furchteinflößend war. Es sah so aus, als steckte ein Hackebeil halb in seinem Kopf. Wenn er Nickbewegungen machte – was er gerne tat –, wippte das Beil auf ungute Weise hin und her. Natürlich war er über und über mit Blut besudelt. Diese Nickbewegung bewirkte zudem, dass aus einer unter seinen wirren Haaren versteckten Ampulle noch mehr von dem Theaterblut floss. Doch, er sah schon recht furchteinflößend aus, das musste man zugeben. Ich habe mich selbst einmal tierisch erschrocken, als er in seinem Kostüm auf mich zukam, obwohl ich ja zumindest halbwegs wusste, was ich zu erwarten hatte.

Drittens – doch, jetzt fällt mir ein, es gab auch noch ein „Drittens“ – machte Bernhard Klein den Fehler, der etwas gehässigen Mia Bartleben zu erzählen, dass er alles, aber wirklich alles für Shaoh tun würde und dass er in sie auf eine Weise verliebt sei, wie es sie in diesem Weltall – ja, so weit ging er tatsächlich – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch nie gegeben habe. Ich sage ja, dass er manchmal nicht recht wusste, wann man etwas sagte und wann nicht. Und vor allem wem. Mia vertrat die unbedingte Ansicht, dass Bernd Shaoh seine Liebe gestehen müsse. Besser heute als morgen. Auf jeden Fall. Bei jeder Gelegenheit bedrängte sie ihn damit. Doch vorerst vergebens.

Problem war, dass Mia ebenfalls im Movie-Park arbeitete. Sie war dafür zuständig, von einem sicheren Beobachtungsposten aus, den Besucherstrom zu beobachten und die diversen Monster per drahtloser Funkverbindung aus ihren Verstecken zu scheuchen, damit sie plötzlich und unvermittelt hervorspringen und unmittelbar vor den meist entsetzlich kreischenden Besuchern auftauchen konnten.

Irgendwann – es war der Halloweenstag 1985 gegen 18 Uhr – bemerkte Mia, dass sich die kleine Shaoh seltsamerweise ganz allein der Stelle näherte, an der Bernhard lauerte. Als sie keine drei Meter davon entfernt war, aktivierte sie ihr Mikro und sprach ganz bedächtig und fast leise: „Bernhard, ich habe Dir eine Ansage zu machen: Shaoh ist genau drei Meter von Dir entfernt. Sag’s ihr jetzt! Zur Sache, Schätzchen! Und los!“

Man kann absolut nur darüber spekulieren, was in diesem Moment in Bernhards Kopf vorgegangen sein muss, nachdem er diese kleine Rede durch seine kleinen In-Ear-Kopfhörer vernommen hatte. Denn jedem, der nur einigermaßen klar bei Verstand ist, muss ja einleuchten, dass es kaum einen ungünstigeren Moment für eine Liebeserklärung gab als diesen. Aber wie gesagt, Bernhard hatte eben da dieses kleine schon erwähnte Problem.

Also, niemand aus unserem gesamten Freundeskreis kann sagen, wieso, aber Bernhard sprang aus seinem Versteck, stand unmittelbar vor Shaoh und war so aufgeregt, dass er nicht nur wild gestikulierte und die Hände nach ihr ausstreckte, sondern auch mit dem Kopf hin und her wackelte. Das hatte zur Folge, dass das Beil in heftige Schwingungen geriet, eine der Theaterblut-Ampullen platzte und sich in einem Schwall über Bernhards Kopf ergoss. Ein paar Spritzer trafen auch Shaoh. Die zeigte eine erstaunliche Reaktion. Sie schrie nicht, nein, sie stand vollkommen stocksteif vor Bernhard – man dachte an Lots zur Salzsäule erstarrte Frau –, und Beobachter der Szene wollen gesehen haben, wie sich ihr nicht nur die Nackenhaare, sondern die gesamte Frisur aufstellte. Ihre mandelförmigen Augen schienen ihr fast aus den Höhlen zu springen.

Bernhard aber sagte trocken: „Ich liebe dich. Willst du mit mir gehen?“ Das war der Moment, in dem Shaohs Lippen begannen, wie wild zu zittern. Dann löste sich doch ein Schrei aus ihrer Kehle, wobei „Schrei“ vielleicht gar nicht mal das richtige Wort ist. Es war ein gutturaler Laut, der von einem Entsetzen kündete, wie es das Weltall – ja, genau! – noch nie gesehen hatte.

Shaoh musste danach drei Monate in einer psychiatrischen Einrichtung behandelt werden. Was später aus ihr geworden ist, weiß niemand. Sie ist mit ihren Eltern nach Japan zurückgegangen. Das Sushi-Restaurant lief wohl nicht so gut. Mia hat später auf einer Geisterbahn angefangen zu arbeiten, deren Besitzerin sie heute ist. Man sagt, dort gehe es wirklich gruselig zu. Wir anderen treffen uns regelmäßig und erinnern uns an unsere Jugend. Und Bernhard, nun ja, der sucht immer noch eine Freundin.