Von Gabriele Sodeur

Noch nie in meinem Leben bin ich mit dem Fahrrad in so einem Tempo unseren Berg hinuntergerast, wie damals. Meine Augen tränten im Fahrtwind und die Nase fing an zu laufen.

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Geht doch zum Steineklopfen, Steineklopfen. Die warten da draußen auf Euch. Schaut ruhig weiter zum Fenster raus, Ihr m ü s s t mir nicht zuhören, wenn ich Euch etwas über Napoleon
erzähle …“

Zum Steineklopfen bin ich nicht gegangen aber Napoleon hat mir trotzdem nichts gebracht.
Ich bin „sitzen geblieben“.

Ein Sitzenbleiber ist ein Loser. Nicht unbedingt für die neuen Mitschüler, obwohl …, egal, auf jeden Fall für die neuen Lehrer oder die alten Lehrer, die man jetzt wieder von neuem hatte.
Zum Beispiel in Latein und Französisch Dr. „Scriba“. Den nannten wir so, weil er eigentlich Schreiber hieß aber auch, weil er immer über jeden Schüler alles akribisch in ein kleines Notizbuch eintrug, z.B. die Noten der Schulaufgaben, und das mit einem klitzekleinen Bleistiftstummel.

Jetzt, in der ersten Französischstunde zog er so ein Büchlein heraus, es war das von meiner Klasse im letzten Jahr. Er streckte die Zunge heraus, befeuchtete zwei Finger mit Spucke und fing an zu blättern. Da ihm der mittlere Finger an seiner rechten Hand fehlte, benutzte er dazu den Zeige- und Ringfinger. Das sah ziemlich grotesk aus, da er zusätzlich noch den kleinen Finger nach oben wegstreckte.

Mit einem spöttischen Zug um den Mund, blätterte er also in diesem Notenbüchlein und hielt plötzlich inne. Er blickte über den Rand seiner Brille hinweg auf, eindeutig in meine Richtung, und las fünf Zahlen vor. Zunächst ganz langsam: „Eins, zwei“ und dann weiter, ganz schnell: „Vier, fünf, sechs.“ Alle lachten. Ich auch. Gequält. Sehr witzig!

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Natürlich hatte ich kein Taschentuch eingesteckt und die Nase lief und lief. Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als während der Fahrt auf dem Fahrrad in die Hand zu schnäuzen und sie danach abzuschütteln. Eklig!
Aber es war keine Zeit, weiter darüber nachzudenken! ich musste es doch noch rechtzeitig schaffen, bis um zwei!

*

Ein anderes Mal hatte ich mir gerade die französischen Hausaufgaben in mein Ringbuch eingetragen und blätterte ein paar Seiten weiter zu meiner Kinoseite, um den letzten Film aufzuschreiben, den ich am Tag zuvor mit meinem Freund gesehen hatte: ’Zur Sache Schätzchen’. Dahinter notierte ich mir, dass das jetzt mein neuer Lieblingsfilm sei.
Da stand Scriba plötzlich hinter mir.
Ich spürte die Luft, die er vor sich hergeschoben hatte, jetzt als heißen Schauer über meinen Rücken laufen. Schnell wollte ich mein Ringbuch verschwinden lassen, da nahm er es schon, mit seinem linken Arm über meinen Kopf hinweg danach angelnd, an sich. Ein säuerlicher „Duft“ entströmte seinen Achseln, obwohl er einen dicken Pullover trug – aber vielleicht gerade deshalb. Ich versuchte die Nase von innen zu schließen und stellte auf Halsatmung um …

Qu‘est-ce que c‘est, w a s haben wir denn da?“ Er streckte die Zunge heraus, befeuchtete nacheinander seinen rechten Zeige- und Ringfinger und blätterte, den kleinen Finger geziert abgespreizt, in meinem Ringbuch.

Stille.

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Ich war sicher nicht in der Foto-AG, weil Scriba sie anleitete. Vielleicht, weil wir nicht nur jede Woche ein spezielles Thema bekamen, zu dem wir Aufnahmen machen sollten, sondern vor allem, weil wir die Bilder hinterher in der Dunkelkammer entwickeln durften.
Zusammen mit den Jungens …

*

Niemand wagte einen Ton von sich zu geben. Ich schon gar nicht.

‘Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm’ – mein superkurzes Stoßgebet, wenn gar nichts anderes mehr geht. Funktioniert oft gut. Bis heute noch. Verscheucht die über mir schwebende Unglückwolke. In dem Fall damals aber nicht.
Scriba spitzte die Lippen und mit einem süffisanten Unterton in der Stimme brach er die Stille und las in betonter Langsamkeit vor. Unerbittlich.Titel um Titel:

Der verkaufte Großvater“, dabei zog er die Augenbrauen hoch und schaute mich, über seine Brille hinweg, spöttisch an.

„‘Der Schatz im Silbersee‘, aha, ein Winnetou.“

Dreimal Dick und Doof“, hier zog Scriba beide Mundwinkel herab und schaute dabei nickend in die ganze Klasse, woher dann auch die ersten, noch schüchternen Lacher zu hören waren.

Helden“- Gekicher.

Liselotte von der Pfalz“, auch hier schaute er mich fragend an und machte eine Pause, nur um sich die folgenden Filmtitel genüsslich auf der Zunge zergehen zu lassen:

„‘Engelchen‘, ein Weihnachtsmärchen?“ – Wieder Gekicher.

„‘Angelique I’ und ’Angelique II’, aah, quelque chose francaise, etwas Französisches, oh là là …” – Gelächter.
„‘Nicht fummeln Liebling’, na, na, na“, er wackelte mit dem Zeigefinger hin und her. – Das Gelächter schwoll an.

Das gelbe Haus am Pinnasberg“, dabei schaute er triumphierend in die ganze Klasse.

Alle quietschten nun vor Vergnügen, nur ich nicht. Ich starrte vor mich auf die Schulbank und bohrte mit meinem Blick ein imaginäres Loch in den Holztisch, in das ich am liebsten verschwunden wäre. 

Ja und da kommen wir nun, last but not least, wie auch der Franzose sagt, ‚Zur Sache Schätzchen‘. Ich glaube“, und dabei schob er seine Brille mit dem rechten Zeige- und Ringfinger auf die Nasenwurzel hoch und schaute mich süffisant lächelnd an, „Ich glaube, du willst uns allen bis morgen den Inhalt deines Lieblingsfilms erzählen, und zwar schriftlich und zur Abwechslung mal auf Französisch, n‘est-ce pas?“

Auch an diesem Nachmittag war wieder Fotokurs und Scriba hatte die ganze Gruppe zu einer „Fotosafari“ eingeladen. Thema „Durchblicke“: Der Blick durch eine Tür, der Blick durch einen Zaun, der Blick durch ein Geländer …

Es war unsere erste Fotoexkursion und Scriba wollte uns alle in seinen VW-Bus packen und mit uns eine Fahrt ins Blaue machen.
Seit langem hatte ich mich riesig darauf gefreut und wollte, trotz des Vorfalls am Vormittag, unbedingt daran teilnehmen.

Um zwei sollte es losgehen und ich brauchte von zu Hause aus, mit meinem Fahrrad, eine viertel Stunde bis zur Schule. Jetzt war es bereits zehn Minuten vor zwei.
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Ich trete also weiterhin in die Pedale „auf Teufel komm ’raus“, und als ich um die Ecke biege, sehe ich, dass der VW-Bus gerade startet. Ich winke wie verrückt. Gott sei Dank, Scriba hat mich noch gesehen.

Er hält an, kurbelt das Fenster ’runter, ich bin noch ganz außer Atem:
„Was ein Glück, Dr. Schreiber, ich hab’s noch geschafft!“

Da deutet er hinter sich und meint, der Bus sei eigentlich schon voll:
„Du kannst gern das nächste Mal mitfahren! Und … wolltest du nicht bis morgen ein Referat über deinen Lieblingsfilm schreiben? Wie heißt er noch einmal? Ah, oui, ‚Zur Sache Schätzchen‘. Weißt du schon, was das auf Französisch heißt?“

Dann zeigt er auf meine Jacke: „Da hast du was!“
Er kurbelt das Fenster hoch, winkt und fährt los.

Ich stehe da mit meinem Fahrrad, lasse, wie in Trance, meine Hand, die ich automatisch erhoben hatte, langsam wieder sinken und schaue an mir herunter:

Da ist Rotz, Rotz an meiner Jacke …

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