Von Anna Deichmann
„Wie der eiskalte Regen in London“, denkt sie, während das Wasser aus der Duschbrause auf sie hinabprasselt. Sie lässt es ihren Körper benetzen, lässt die Unsichtbarkeit in sich einsickern, und hofft, sich vielleicht irgendwann einfach hier aufzulösen. Wie eine Brausetablette. Nur ohne den Schaum und das Prickeln.
Aber als sie nach dreißig Minuten noch immer da steht und kein Stück weniger geworden ist, dreht sie das Wasser ab und tritt aus der Dusche heraus auf den kalten Fliesenboden. Sie spürt die Luft an den Tropfen auf ihrer Haut zerren, spürt das Wasser sich um sie herum verflüchtigen und die Kälte in ihre Glieder kriechen. Doch anstatt sich anzuziehen oder ein Handtuch umzulegen, bleibt sie mit Gänsehaut am ganzen Körper in der Mitte des Raumes stehen und schließt die Augen.
Dann hebt sie den linken Zeigefinger an ihre Unterlippe und fährt sie langsam entlang. Sie ist etwas wund, und dicker als sonst.
Ihr Finger wandert über das Kinn den Hals hinunter und harrt einen Moment an ihren Schlüsselbeinen aus. Sie erinnert sich an den roten Spitzen-BH, in dem sie sich selbst so hübsch fand. Er ließ ihre Schultern so fein und ihr Dekoltée so erwachsen aussehen.
Während sie zitternd ausatmet, zeichnet sie mit dem Finger eine Kurve und streift dabei den Rand ihrer Brüste. Als hätte sie sich geschnitten, so geräuschvoll atmet sie ein und so sehr steht ihr ganzer Körper plötzlich unter Spannung. Aber sie hat sich nicht wehgetan. Nur die Gedanken wandern lassen. Vielleicht ist das auch dasselbe.
Ihr Finger streicht weiter über ihren Oberkörper, in kreisenden Bewegungen erst ihre Rippenbögen entlang und dann um den Bauchnabel herum. Sie hält noch immer den Atem an. Stellt sich vor, es wäre nicht ihre Hand, die da ihre unsichtbaren Spuren hinterlässt. Sie will sich das eigentlich gar nicht vorstellen. Aber sie kann nicht anders. Früher oder später passiert es immer, egal wie fest sie sich bei jedem Gedanken vornimmt, ihn nicht mehr darin vorkommen zu lassen.
Und so gleitet sie mit diesem ihren, aber doch so fremden Finger weiter ihren Körper hinab. Und bleibt taub.
„Oh wow, der würde dir hammermäßig stehen!“
„Meinst du? Ist der nicht … ein bisschen … zu erwachsen?“
„Hä? Du bist vierzehn, sogar bald fünfzehn! Da gibt es kein zu erwachsen mehr. Nimm ihn mit und wenn du ihn nicht tragen magst, kannst du ihn mir ja zum Geburtstag schenken. Oder gefällt er dir etwa nicht?“
„Die Farbe ist schon hübsch, aber …“
„Na siehst du! Jetzt komm schon, du willst doch nicht ewig mit den Kinder-BHs rumlaufen, die deine Mutter dir kauft? Glaub mir mal. Ich hab nen Haufen solcher Unterwäsche, und ich hab auch mit noch keinem Typen geschlafen. Es geht ja nur darum, dass du dich selbst schön findest. Hat meine Schwester gesagt.“
„Hm. Ja, vielleicht … okay, ich probier’s mal. Muss ihn ja nicht tragen, wenn ich ihn nicht mag.“
„Ganz genau! Na komm, wir gehen zur Kasse.“
Sie schließt den Clip hinter ihrem Rücken und dreht sich zum Spiegel, voller Angst, wer ihr dort entgegenstarren wird. Sie hat sich selbst seit Tagen nicht mehr angesehen. Zu Boden zu starren war zur Waffe gegen die eigenen Erinnerungen geworden.
Doch wenn sie den Blick jetzt hebt, wen wird sie dort sehen?
Eine erwachsene Frau? Eine Mutter? Jemanden mit eingefallenem Gesicht, müden Augen, schlaffen Gliedern? Wird sie dreckig aussehen? Wird da noch Blut an ihrem Körper kleben? Wird man die Fingerabdrücke auf ihrer Haut erkennen, wird sie ein Brandmahl an ihrem Handgelenk tragen? Werden ihre Haare so unbändig und strohig aussehen, wie sie sich anfühlen? Wird da eine Narbe auf ihrer Brust sein. Oder vielleicht noch eine offene Wunde.
„Und jetzt zur Sache … Schatzi.“
Seine Worte klangen rau und nachdrücklich, so als könne er es kaum erwarten. Sie schob seine Hand von ihrer Schulter und versuchte, etwas Abstand zwischen sich und den Jungen zu bringen.
„Ich … ich weiß nicht, ob ich das will.“
„Na was? Du magst es doch, mich zu küssen, oder?“
„Ja, aber …“
„Siehst du. Dann wird dir das schon auch gefallen.“ Er drückte seine Lippen auf ihre und sie küsste ihn zögerlich zurück. Er hatte ja recht, das Küssen machte Spaß … er konnte das gut.
Seine Hand wanderte zurück an ihre Schulter, griff den Träger des BHs und ließ ihn schnalzen. Dann zog er sich aus dem Kuss und ließ sie schwer atmend zurück. Seine Finger widmeten sich den Knöpfen ihrer Bluse.
„Ich weiß wirklich nicht …“ Ihre Stimme klang fast flehend. Die ersten drei Knöpfe waren geöffnet.
„Oh wow.“ Er blickte auf den dunkelroten Spitzen-BH, den sie trug, und grinste erwartungsvoll. „Du kannst mir nicht erzählen, dass du es nicht willst. Du hast dich ja extra zurechtgemacht … und wie.“
„Und jetzt zur Sache, Schatzi“.
Er sagte es an diesem Abend kein zweites Mal, aber sie hörte die Worte in ihren Gedanken nachhallen, wieder und wieder.
„Jetzt“, als er ihr die Kleider vom Körper zog und zuletzt auch den roten BH öffnete und neben das Bett warf.
„Zur Sache“, als er sich selbst auszog, als er sie küsste und anfasste, und sie ihn zurück küsste, denn sie hatte ja gesagt, dass sie es mochte. Oder?
„Schatzi“, als er in ihr war und sie blutete, und sie weinte, aber keine Tränen kamen und er nichts bemerkte, und als er dann später neben ihr lag und grinste und ihr sagte, wie geil es gewesen wäre, und dass es ihn so scharf gemacht hatte, wie sie ihn hatte zappeln lassen. Und sie nickte und zog sich an und ging nach Hause.
Und sie hätte fast ihren Namen vergessen, weil in ihrem Kopf nur noch sein raues „Schatzi“ wiederhallte.
Sie blickt auf und sich selbst direkt in die Augen. Dann huscht ihr Blick über den ganzen Körper, über nackte Haut, über offene und ungekämmte Haare und auch über den dunkelroten Spitzen-BH, der ihre Schultern so fein und ihr Dekollté so erwachsen aussehen lässt.
Sie sieht ein junges Mädchen – keine Frau und keine Mutter, und keinen geschundenen Körper.
Sie sieht einen jungen Körper – ohne Narben und offene Wunden, auch wenn es sich noch immer so anfühlt.
Sie sieht sich selbst – findet sich hübsch.
Und lächelt ganz vorsichtig ihr Spiegelbild an.