Von Peter Burkhard

Mir graute vor dem Gang auf die Bühne, aber die Laudatio ließ keine Zweifel offen.
Dann fiel mein Name.
„…und bitten Sie nach vorn für Ihre verdiente Würdigung als diesjährigen Ritter der Straße.“

Applaus brandete auf. Furchtbar. Ich wusste, morgen würde mein Porträt in der Presse erscheinen, mit meiner Geschichte, die mich zu einer Art Helden stempelte.

Aber ich bin kein Held, will keiner sein. Ich fühle mich als Normalo.
Mit einer Einschränkung: Pünktlichkeit geht mir über alles, wortwörtlich, mehr als normal.
Oft engt sie mich ein. Dieses Korsett – manche erkennen darin eine Tugend – bestimmt seit jeher meine täglichen Gewohnheiten. Eine davon, mein Morgenritual, ließe sich mit wenigen Worten exakt beschreiben. Relevant ist aber nur dessen Dauer: fünfundzwanzig Minuten ohne und zehn Minuten mehr mit Frühstück.
Auch anschließend, auf meinem Weg zur Fähre, verläuft es jeden Tag gleich, dem unerbittlichen Diktat meiner Uhr gehorchend. Ich will eine Viertelstunde vor Unterrichtsbeginn, also um acht Uhr, im Klassenzimmer sein, deshalb nehme ich ausnahmslos die „Zwanzig-vor-acht-Fähre“. Das ist zeitlich knapp, aber es reicht.

Besser gesagt, es reichte.

Bis zu jenem turbulenten Februarmorgen, als alles anders verlief als normal und weit entfernt von den gewohnten Szenarien. Im Laufe der Nacht hatte sich ein Föhnsturm entwickelt, der bei Tagesanbruch unheilschwanger und mit aller Gewalt aus den Bergen über das Mittelland hinwegbrauste. Aus diesem Grund sollte sich dieser Tag, dem ich schon mit Skepsis entgegensah, nochmals viel dramatischer gestalten als erwartet.
Schon in den Stunden zuvor schlief ich unruhig und warf mich nervös hin und her. Ein Mitglied der Schulbehörde, eine unangenehme, forsche Jungunternehmerin, hatte mir ihren Besuch angekündigt. Um keinesfalls zu spät zu kommen, glitt ich an diesem Morgen ungeachtet meines Schlafmangels zeitig aus den Federn und verließ das Haus eine dreiviertel Stunde früher als sonst. Draußen schlug mir der Wind unangenehm warm ins Gesicht und weckte spontane Erinnerungen an eine mörderische Motorradtour im Death Valley.
Bunte Blätter, die dem Wind des letzten Herbstes noch widerstanden hatten, wirbelten ums Auto und verklebten die Windschutzscheibe. Zahlreiche kleine und große Äste lagen kreuz und quer auf der Straße und auf den dreckigen Altschneeresten entlang der Bordsteine. Bereits hatte der Sturm vereinzelte Reklametafeln umgeworfen und die Raben kämpften im Dämmerlicht des noch jungen Tages verzweifelt krächzend gegen die Böen, welche die Vögel zerzausten und durch die Luft schleuderten. Es mag erstaunen, dass ich von dieser apokalyptischen Stimmung eher angetan war, als dass sie mich abschreckte. Mehr noch, sie beflügelte mich.
Entgegen allen Widrigkeiten gelangte ich rechtzeitig zum Anlegesteg der Schiffe, wo einer der Fährmänner sämtliche Ankömmlinge abwinkte und wild herumfuchtelte.
„Der Fährbetrieb ist eingestellt. Keine Chance heute, Sie müssen umkehren!“
Ich musste ein jämmerliches Bild abgegeben haben, wie ich hilflos und verloren auf das schwarze, sturmgepeitschte Wasser stierte, über dessen sich schnell folgenden Wellenkämme es kein Durchkommen gab. Die rhythmisch blinkenden Sturm-Warnleuchten an beiden Ufern wirkten wie überforderte Warner im Aufruhr der Elemente, wie festsitzende Glühwürmchen vor der Kulisse der im Osten aufsteigenden Sonne.
Ich warf einen gehetzten Blick auf mein iPhone. Aus Erfahrung vermochte ich abzuschätzen, wie lange ich mit dem Auto um das untere Seebecken benötigte: Trotz schlechter Vorzeichen blieb mir theoretisch genügend Zeit. „Los geht’s“, sprach ich mir halblaut Mut zu und warf mich erneut hinter das Steuer.

Während der Fahrt in Richtung Stadt, deren Seepromenade vor mir glitzerte, verlor der Sturm nicht an Kraft. Im Gegenteil, er kam mit voller Wucht von hinten und verlieh meinem Gefährt einen unterstützenden Rückenwind, auf den ich ausnahmsweise hätte verzichten können. Denn wenig überraschend nahm die Verkehrsdichte mit jedem gefahrenen Kilometer zu und das Tempo in gleichem Maße ab. Ich fluchte leise vor mich hin und begann mit mir selbst zu sprechen und mit meiner Frau, die zu Hause bestimmt noch schlief. „Du hast ja keine Ahnung, Liebste, in welch misslicher Lage ich mich gerade befinde. Du liegst garantiert noch schlummernd unter deiner Decke, während vor deinem Fenster der Wind wütet und das Geäst des Ahorns vor unserem Haus malträtiert. Aber träume ruhig weiter, meine Holde, tu dir keinen Zwang an. Wie heißt es doch so schön: Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf.“

„Verdammt, pass doch auf, du Idiot, siehst du irgendwo einen Zebrastreifen?“
Mein Ausbruch richtete sich gegen einen jungen Mann, der mit Stöpseln in den Ohren, einfach auf die Straße getreten war, aber ebenso gegen mich selbst. Der Kerl machte mir bewusst, dass ich sträflich mit meinen Gedanken abgeschweift war und es an Achtsamkeit hatte fehlen lassen. Ein Fehler, der leicht ins Auge hätte gehen können.
Nur kurz nach diesem Malheur führte die Straße endlich wieder stadtauswärts und die Fahrbahn wurde breiter. Die Autos wurden jetzt zahlreicher, welche mir entgegenkamen, auf ihrem Weg in das morgendliche Chaos der Stadt.
Vor mir aber war die Fahrbahn frei, ich wechselte auf die zweite Spur und gab erleichtert Gas.
Zzzsss. Zzzsss.
Der Blechpolizist blendete mich kurz und entlockte mir ein Lächeln. Eigentlich war dies bloß noch das Tüpfelchen aufs i, zum Start in diesen ganz besonderen Arbeitstag.

Bekannte Fixpunkte flogen vorbei und dort, wo ich freien Blick aufs Ufer hatte, sah ich die Wellen des wütenden Sees an Mauern und Böschungen brechen und meterhohe Gischtwolken ans Land schleudern. Es waren eindrückliche Szenen, sodass ich gern ausgestiegen wäre, um mich auf das Naturspektakel mit allen Sinnen einzulassen. Aber meine Zeit war knapp und die Jungunternehmerin drängte sich nervend in mein Bewusstsein.

Kurz vor Ortsbeginn meiner Schulgemeinde wartete ein Grüppchen Primarschüler darauf, die Straße überqueren zu können. Ich hielt und winkte die mit reflektierenden Leuchtstreifen versehenen zappeligen Kinder lächelnd über den Zebrastreifen.
Hätte dieser kurze Stopp nicht stattgefunden, wäre alles anders gekommen, da war ich mir sicher. Es waren diese wenigen Sekunden, in denen mein Schicksal seinen Plan änderte.
Rechts vor mir tauchte Rosas kleine Tankstelle aus dem Halbdunkel auf. Der Föhn zerrte an deren flackernder Leuchtreklame und drohte, diese wegzureißen.
„Wenn die das nur übersteht“, brummelte ich und bog nach links in die alte Landstraße ab. Hier erhoffte ich mir, schneller vorwärtszukommen. Diese Allee war zwar schmal und kaum beleuchtet, aber schnurgerade und viel weniger befahren.

Die junge Autolenkerin stand an einer Einmündung auf der gegenüberliegenden Straßenseite und wollte eben losfahren. Um ein brüskes Bremsmanöver meinerseits oder noch schlimmeres zu verhindern, hieb ich kräftig und anhaltend auf die Hupe und drückte das Pedal durch. Meine Reaktion zwang die Frau ihrerseits zu einer abrupten Bremsung und versetzte sie offensichtlich in Rage. Sie schleuderte mit laut quietschenden Reifen hinter mir in die Straße, nahm lichthupend die Verfolgung auf und fuhr zentimeternah auf mich auf. Sekunden später setzte sie ohne Blinkzeichen zu einem waghalsigen Überholmanöver an, schoss an mir vorbei und raste gestikulierend See-aufwärts.
Völlig geplättet fasste ich das Steuer fester und schrie hinter ihr her: „Mensch, was soll das? Du gehst ganz schön zur Sache, Schätzchen. Wenn das nur gut geht!“

Dann fiel die Buche.

Als sie mit ihrer ausladenden, blätterlosen Krone auf die Fahrbahn krachte, sah es für mich danach aus, als hätte eine unsichtbare Macht den Baum gepackt, diesen hochgehoben und mit aller Kraft quer über die schmale Straße geworfen. Ich wurde unmittelbar Zeuge, wie das Auto und mit ihm seine ungestüme Fahrerin, um Haaresbreite dem Gewirr von peitschenden und splitternden Ästen entkam, bevor ich gerade noch rechtzeitig abbremsen konnte.
„Hast du jetzt Glück gehabt, du blödes Miststück!“
Mit einem lauten Seufzer und mit durchgestreckten Armen drückte ich mich tief in den Fahrersitz und warf einen Blick auf die Autouhr: sechs Minuten vor acht.
Das reicht. Wenn ich zurücksetze und den Umweg über die Bergstraße nehme, dann reicht das allemal. Die Fahrbahn hinter mir ist leer. Worauf warte ich noch?
Als ich wieder auf die Straße vor mir blickte und den gefallenen Baum, bemerkte ich auf der Gegenfahrbahn den Mann. Er war den peitschenden Ästen nicht entkommen. Wie mit den Tentakeln einer riesigen Krake hatte die Buche nach ihm gegriffen und ihn auf die Straße geschleudert. Ein großer Ast drückte den Verunfallten zu Boden und mit ihm sein Rad, dessen flackernde Frontleuchte letzte Lebenszeichen von sich gab.
„Oh nein, Scheiße! Du armer Teufel, das war’s. Aus die Maus.“ Ich schlug mit der Hand aufs Lenkrad. „Scheiße! Verdammte Scheiße!“
Mein Blick glitt wieder zur Uhr, dann in den Rückspiegel. Die Straße hinter mir gespenstisch leer.
Die Klasse wartet und die Jungunternehmerin. Was zögerst du?
Reflexartig legte ich den Rückwärtsgang ein und erstarrte.
Der Tote hatte seinen Arm bewegt.

 


V2