Von Björn Neumann

Es war ein heißer Sommertag im August 1955. Joe drehte das Autoradio seines knallroten Cadillacs Series 62 Cabriolet voll auf. Bill Haley dröhnte mit dem Hit des Sommers aus den Lautsprecherboxen – „Rock around the clock“. Einen Arm lässig aus dem Fenster hängend, trommelte er im Takt der Musik mit der rechten Hand auf dem Lenkrad. Ältere Herrschaften sahen kopfschüttelnd hinterher, junge Mädchen in Petticoats wendeten sich verlegen kichernd um und blickten ihm verstohlen nach. 

„Hey Joe, Wahnsinnsspiel am Samstag. Gratuliere“, rief ihm der Gemischtwarenhändler Bernie Kowalski hinterher. 

Joe war mit seinen 18 Jahren der Star der Stadt. Quarterback des Highschool-Footballteams und Schwarm aller Mädchen von 12 bis 21 Jahren. Nicht wenige sagten ihm eine steile Profi-Karriere voraus. 

„Danke, Sir. Ich habe mein Bestes getan.“ Mit der freien Hand fing er den Apfel, den Bernie ihm zuwarf. 

Langsam bog er in die nächste Seitenstraße. Er hatte heute Abend ein Date. Nicht, dass es irgendetwas Besonderes für ihn wäre. Er hatte ja quasi schon die komplette Cheerleader-Truppe vernascht. Aber Vicky war ein besonderer Fall, galt sie doch an der Highschool als „Rührmichnichtan“. Sie war nicht hässlich und würde sie sich nicht hinter einer dicken Hornbrille verstecken, könnte man sie sogar als Schönheit bezeichnen. Jedenfalls hatte sie Joes Jagdinstinkt geweckt und sollte die nächste Kerbe hinter der Sonnenblende werden, mit denen er seine Eroberungen markierte. „Heute bist du fällig“, dachte er, als er grinsend die Blende hochklappte.

 

Elmstreet 24 – hier wohnte sie. Er hielt den Wagen direkt vor dem gepflegten Einfamilienhaus der Sanders. Weiß gestrichener Gartenzaun, frisch gemähter Rasen, Schaukelstuhl auf der Veranda. „Wie spießig“, dachte Joe. „Passt zu der Kleinen.“ Joe drückte auf die Hupe. 

Als die Tür aufging, hörte er noch das „Komm nicht zu spät nach Hause!“ der Mutter. Vicky drehte sich noch einmal um und wandte sich dann mit einem gequälten „Ja, Ma!“ der Straße zu. Schüchtern ging sie auf das rote Fahrzeug am Straßenrand zu. 

„Jetzt komm schon“, seufzte Joe ungeduldig, wobei ihm nicht entging, dass Vicky hinreißend aussah. Ihr langes braunes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie trug, trotz der Hitze, den roten Schul-Pullover mit dem großen weißen „S“ auf der Brust. Dazu einen roten Rock mit Petticoat und ihre Füße steckten in weißen Turnschuhen und ebenfalls weißen Söckchen. Joe würdigte Vicky kaum eines Blickes, als sie ins Auto stieg. Stattdessen kämmte er sich die Schmalztolle und schmatzte gelangweilt sein Kaugummi. „Das wurd‘ auch Zeit, Babe“, waren seine einzigen Worte der Begrüßung. Vicky versank fast in dem Ledersitz des großen Autos und ihr schüchterner Blick unterstrich, wie klein sie sich fühlte. Joe brauste los. 

 

„Wollten wir nicht ins Kino?“, fragte Vicky verunsichert, als sie die Stadtgrenze erreichten. 

„Planänderung“, war die karge Antwort. Der rotglühende Feuerball am Firmament verschwand langsam hinter den Baumwipfeln der umliegenden Wälder und der strahlende Sommertag wich dem Zwielicht des Abends.

Joe bog den Cadillac in einen kleinen Waldweg, der von der Hauptstraße abging. 

„Was wollen wir hier“, fragte Vicky ängstlich. Sie spürte einen dicken Kloß im Hals, als sie Joes verächtliches Grinsen sah. Schon beugte er sich über sie und presste seine Lippen auf ihre. Verzweifelt versuchte sie sich von ihm los zu machen, doch er schien mehr Arme als eine Krake zu haben. Schon war eine Hand unter ihrem Pulli, die andere suchte gleichzeitig den Weg zwischen ihre Schenkel. Mit aller Kraft machte sie sich von ihm los. 

„Lass das!“, schrie sie ihn an. 

„Zur Sache, Schätzchen! Hab‘ dich nicht so. Sei froh, dass ich mich mit dir abgebe!“, war seine lapidare Antwort und schon war er wieder über ihr. 

Der Schrei war nicht von dieser Welt. Joe dachte es zerreißt ihm seine Trommelfelle. Und er sah das pure Grauen. Vicky schwebte halb über ihm. War es überhaupt Vicky? Er blickte in eine verweste Fratze. Die eben noch braunen Haare hingen in weißen, zerzausten Strähnen vom Kopf eines uralten Wesens. Der zahnlose Mund verströmte einen bestialischen Gestank. 

„Du sollst mich in Ruhe lassen!“ kreischte die unheimliche Gestalt. 

Panisch sprang Joe aus dem Wagen und verschwand im Wald. Die Gestalt, von der ein unheimliches Leuchten ausging, schwebte noch immer über dem Cadillac und brach in ein höhnisches, fast wahnsinniges Gelächter aus.

 

Es war noch nicht neun, als Vicky nach Hause kam. „Na, das war dann wohl nicht so toll, Vicky?“, fragte ihre Mutter. 

„Och, ich hatte meinen Spaß!“ Ohne weitere Worte lief Vicky die Treppe hoch und öffnete die Tür zu ihrem Zimmer, die mit ihrem richtigen Namen „Wicca“ bemalt war.  

 

Wenige Wochen später erschien in der Tageszeitung ein Bericht über den ehemaligen Quarterback der Salem-High: 

„Der 18-jährige Joe Banks wurde am vergangenen Mittwoch an der Hauptstraße in Nähe des Dark-Forest aufgefunden. Der junge Mann, der seit zwei Wochen vermisst wurde, war vollkommen verwahrlost und machte einen verwirrten Eindruck. Er wurde direkt zur stationären Behandlung ins Salem Asylum eingeliefert. Der behandelnde Arzt spricht von einem besorgniserregenden Schockzustand: Der junge Mann redet von Hexen und Geistern, die ihm im Wald begegnet seien. Zudem ist der bisher schwarzhaarige Banks in kürzester Zeit komplett ergraut.“

 

„Komm nicht zu spät nach Hause“, mahnte die Mutter Vicky, als sie das Haus verließ. 

„Keine Sorge, Ma“, trällerte diese zurück, als sie zum Golf-Cabrio lief, das am Straßenrand auf sie wartete. Aus den Lautsprechern dröhnte Madonna mit „Like a Virgin“. Es war der Hit des Jahres 1984. 

Am Straßenrand stand ein älterer Mann. Traurig blickte er zum VW und schüttelte den Kopf.  Wie viele Männer würde Vicky noch in den Wahnsinn treiben. Als der Wagen an Joe vorüberfuhr, zwinkerte der junge Mann am Steuer ihm zu. Joe musste lächeln. Auf einem Aufkleber auf der hinteren Stoßstange stand nur ein Wort. „Witch-Hunter“.

 

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