Von Hans-Günter Falter

Sie beugt sich über mich. Ich spüre ihre Nähe, nehme ihren Geruch wahr. Sie riecht nach Kneipe. Nach Bier und Zigaretten. Und nach Kälte. Ganz anders als sonst. Ich lasse mir nichts anmerken, lächele sie kurz an und drehe mich weg, so, als ob ich schlafen wollte. Aber ich werde nicht schlafen. Heute nicht.
Sie ist mir fremd. So mag ich sie nicht.

Ich höre die dumpfe Stille. Sie dringt wie durch Watte zu mir durch. Meine Ohren würde ich am liebsten zuhalten, so intensiv ist diese Stille. Kreischende Stille.

In meinem Kopf bildet sich sachte und schleichend ein Ton. Gleichförmig. Monoton. Ein Fiepen. Wie die Überreste eines zu lauten Rockkonzerts. Betäubend. Wohlig. Ernüchternd. Eine Erinnerung bewahrend, zum Mitnehmen, für die Fahrt nach Hause. Eine Brücke in die Realität, von der künstlichen Bühnenwelt ins echte Leben.

Die Gerüche schweben, wie sphärische Musik durch den Raum, verbinden sich mit der Stille zu einer neuen Dimension.
Ich bewege mich nicht. Bewegungen könnten die Frequenz des Tons verändern. Davor habe ich Angst. So, wie es jetzt ist, kann ich es aushalten. Es gibt mir Sicherheit. Eine gewisse Art von Sicherheit. Trügerische Sicherheit. Mühsam verpackte Unsicherheit.

Ihr Atem trifft meinen Nacken. Es wird kalt, wenn sie einatmet, warm beim Ausatmen. Ich möchte die Decke über meine Schultern ziehen, den Atem von mir fernhalten, bewege mich aber nicht. Hoffe, dass es bald vorbei ist. Halte es aus. Wieder einmal. Wie schon so oft.

 

Die Erinnerung und das Gefühl nehmen ungefragt mein Bewusstsein ein. Im Handstreich. Werden real. Sind unendlich nah. Auch nach all den Jahren. So vielen Jahren. Kreisen in mir. Déjà-vu.
Ich habe sie geliebt. Trotz allem geliebt. Und ich liebe sie immer noch. Auf unerklärliche Weise. Tiefgründig. Abgründig.

Vieles ist geblieben. Ich ertrage es nicht, wenn Menschen hinter mir stehen. Im Supermarkt. In der U-Bahn. Gehe diesen Situationen aus dem Weg. Wenn ich den Atem eines Fremden spüre, erschaudere ich und wende mich ab, kann mich der Situation entziehen. Bei Menschen, die ich liebe, funktioniert das nicht, ich verfalle in die gleiche Starre wie damals, höre wieder die alles überlagernden hohen, fiependen Töne. Werde davon eingelullt, unfähig mich zu wehren.

 

Liege wieder im Bett. Alleine. Warte. Denke nach.
Wann wird sie kommen? Das geht mir durch den Sinn. Sie wird nicht mehr kommen, das weiß ich tief in mir drinnen.

Noch tiefer in mir habe ich trotzdem Angst davor. Ich falle in einen tiefen Schlaf.

 

Alle haben Zahnweh. Oh weh. Oh weh.

Ich bin der Nikolaus.

Heiße eigentlich Klaus.

Ist kein Witz.

Mag deinen Hund. Ist es ein Spitz?

Habe schon so lange keinen mehr gesehen.

Dachte schon, es wär um sie geschehen.

Aber nun, da ich hier bin … übrigens ich heiße Tim …

 

Ich wache auf. Was habe ich da geträumt? Die Erinnerung zerrinnt in Millisekunden und ich döse wieder weg. Halb schwebe ich über mir, sehe eine seltsam vertraute Gestalt aus der Vergangenheit unter mir.

 

Der Fahrstuhl spuckte ihn aus, auf den Gang. Der trieb ihn vorwärts, bis er ihn endlich auf die Straße entließ. Das Taxi fand ihn, nahm ihn auf, suchte sich seinen Weg entlang der Häuser, und ließ ihn bis zur verabredeten Stelle unbehelligt.
Dort entlud es ihn unsanft, vor den piepsenden Ampelmännchen, die sich beeilen mussten, um noch schnell vom Gehweg eingeholt zu werden.

Das Büro wartete schon zu lange auf ihn, als dass es sich über seinen Anblick noch freuen konnte. Jeder Tag löste den nächsten ab und wiederholte sich selbst in scheinbar unveränderlicher Folge.
Er wurde in eine Sitzung gespült und vor seinesgleichen aufgestellt, Fragen wurden von ihm erwartet, Antworten gegeben. Sein Kopf segelte melancholisch durch seine Gedanken und ließ seine Gefühle verschwommen, ganz alleine zurück.
Ruhe strömte schwermütig durch die geschlossenen Gänge, die von den Fenstern versteckt, zweitreihig gegen die Blumen gelehnt waren.
Er wurde wieder verschoben. In einen weiteren Raum aufgesogen, starrende Augenpaare zogen ihn auseinander. Ein glückliches Bett nahm ihn auf und er wurde in einen Traum gerutscht.

Er folgte seinen Füßen in Richtung des grauen Teppichs. Entließ sich aus dem Haus und wurde vor die Tür getreten.

Ein Baum stellte sich ihm in den Weg. Der suchte nach einem Zweig, um ihn zu schlagen …

 

Erschrocken wache ich auf. Versuche mich zu orientieren. Es dauert einen Moment. Einen langen Moment. Erleichterung.

Mir kann nichts passieren, alles ist gut.

Ich lege mich wieder zurück. Spüre, dass ich klatschnass geschwitzt bin. Auch das Bettzeug ist durch. Frühreif im Bett. Feuchter Nebel auf den Blumenmustern meiner Bettdecke.

Sie ist zurück, ohne da zu sein. Wieder einmal!

 

 

 

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