Von Kornelia Wulf

Den schwarzen Stift zwischen Daumen und Finger gepresst zittert meine Hand. Alles verkrampft. Ich atme tief ein und schüttele sie aus. Schnaufe den Ballast aus mir heraus. Dass es bloß nicht wieder ins Auge geht. Ich bin nicht der Typ Schminkmaus, bin es nie gewesen. Noch völlig ungeübt, meinem Potential den perfekten Anstrich zu geben. Aber schließlich sind wir nicht auf der Welt, um an Komfortzonen festzukleben. Entwicklung muss sein, auch wenn dabei die Augen tränen. Die Finger zu einem Fächer gespreizt puste ich über die korallenroten Nägel. Russian Roulette stand auf dem Etikett der Glasflasche. Ganz instinktiv habe ich zugegriffen, ohne zu überlegen, obwohl spontan ansonsten ein Fremdwort für mich ist. Und während ich nach den Strümpfen greife, sie vorsichtig über die Füße streife, sucht mein Blick nach rauen Kanten, bevor sie das zarte Gewebe zerreißen.

„Was für ein üble Masche“, unangenehm schrill hatte Anjas Stimme geklungen, als meine Freundin mir diesen Vortrag hielt. Und während ich Strumpfbandspitzen auf den Schenkeln glattstreiche, kommt er mir wieder sauer hoch. „Mensch, Becka, hast du denn den Artikel im Tagblatt nicht gelesen. Eiskalt dieser Kerl. Und brutal. Zuerst umgarnt er seine Opfer, schnürt sie eng an sich. Isoliert sie systematisch von Freunden und Familie. Und wenn sie dann glauben, die Welt dreht sich nur noch um ihn, lässt er sie fallen. Bodenlos tief. Und gibt dir denn nicht zu denken, was er mit Linda K. angestellt hat. Echt tough, diese Frau. Die hat ihn durchschaut, sich nicht klein machen lassen. Noch lebt sie. Aber nach vierzehn OPs beim plastischen Chirurgen soll ihr Gesicht wie ein Schlachtfeld aussehen. Und um den willst du dich kümmern? So viele einsame Alte. In der Residenz direkt bei dir um die Ecke. Oder die Welpen im Tierheim, die nach ihrer Mutter winseln. Sie würden sich die Pfoten nach dir lecken.“

***

Ein Ahornblatt streift das stählerne Tor, weht auf meine Schulter. Es knistert in einem glutfarbenen Orangerot, an diesem Herbsttag, der heute milde lächelt, während die Tür der Hauptpforte sich öffnet. Die Hand fest an die Stirn gedrückt schütze ich den Blick vor dem Neonlicht, das spitz und weiß in den Einlassraum scheint. Wie an jedem Tag.

„Hallo Frau Karger. Alles gut?“, ich höre Frau Lömkers Stimme, „wie geht es denn Ihrem armen Roy?“ Sie zupft ein Stäubchen von dem dunklen Uniformblau, auf dem man wirklich alles sieht. „Immer noch Schnupfen?“

„Ach“, schniefe ich, „dieser verrückte Sittich“, spür´, wie eine Träne sich zögerlich lockert, „nach all den Tagen im Kamillendampf habe ich seinen Käfig geöffnet. Nur einen Spalt, damit er glaubt besser atmen zu können. Am letzten Mittwoch, dem Wahnsinnsnebeltag. Können Sie sich erinnern? So tief die Schwaden, dass sie fast die Grasspitzen küssten. Und dann ist er durch das gekippte Fenster geflattert. Hat sich im Dunst verirrt. Erst Stunden später habe ich ihn gefunden, in einer Blutlache schwimmend. Die kleine Brust. Komplett zerfetzt. Vom Stacheldrahtzaun vor unserem Haus. Der hat ihn einfach aufgeschlitzt.“ Ich atme tief ein und wieder aus. Schnaufe den ganzen Ballast heraus. Sende Ihm einen Gruß. Was für ein Segen, Er hat mich geleitet! Zu dem Pranayama-Kurs in der VHS.

„Ja, so ist das wohl“, die perfekt getuschten Wimpern taktvoll gesenkt – mein Gott hat die Frau ein Talent – stimmt die Lömker mir zu, „nicht jedem bekommt die Freiheit gut.“ Und während Deo und Tampons in die Plastikwanne gleiten, der Schlüssel auf dem Handy rasselt, verstaut sie meine Tasche in dem Schließfach und krempelt die Uniformärmel hoch.

„Na, dann wollen wir mal wieder.“

Nur einen Schritt entfernt vom Durchgangsdedektor, streichen ihre Hände über Stiftrock und Bluse, bis sie in den Achseln kitzeln

… an meinen Augenwinkeln huschen Schatten vorbei. Weiße Latexhandschuhe fliegen durch den metallenen Rahmen – nirgendwo fiepst es, keine Gefahr – bevor ihre Finger die Brüste umschließen, die das konzentrische Kreisen auf diesen Punkt hin sichtbar genießen …

und mich dann auf den Flur winken, der endlos lang erscheint, während wir den Weg zur Tür abschreiten. Und wie jedes Mal nervt mich das jammernde Quietschen, als der Metallstift tief in das Loch eindringt.

„Treten Sie ein. In Besuchsraum 2, in ihr Lieblingsboudoir. Jetzt fehlen hier nur noch die roten Gardinen.“ Sie lacht schallend – kriegt sich kaum ein -, dann lässt die Lömker mich hier allein. Glaubt tatsächlich, sie habe einen Witz erzählt.

Meine Zähne knabbern am Daumennagel. Graben hässliche Spuren in den Lack. Verdammt! Warum nur ist mein Taschenspiegel hier verboten. Ein flaues Gefühl zwischen Leisten und Rippen – ist es möglich, dass mein Magen zittert (?) -, breitet sich hoch zum Kehlkopf aus, löst sich dann auf, als sie ihn endlich zu mir bringt. Und die Welt um uns zerfällt in graue Fetzen. Das Blau seiner Augen – als einzige Lichtquelle -, leuchtet in winzige Seelenzellen, kittet dort jede mentale Bruchstelle.

Und wie eine Schnecke gefangen in Honigschleim, fühle ich mich von seinem Blick gebannt. Jedes Mal, wenn er mich anschaut, schlägt Franco eine neue Seite in mir auf.

…  ein scharfes Klicken. Raues Stöhnen. Die Handschellen schnappen um die hölzerne Stuhllehne. „Erledigt, Herrin“, haucht die Lömker. Und den Blick devot gesenkt, zieht sie sich rückwärts schleichend zurück. Nass glänzt der Schweiß auf Francos Stirn. Zieht seine Spur über Schläfen, Nase, tropft in den Kragen. Aufgesogen von der Luft, wälzt sich im Raum ein schwerer Duft. Und als ich tief einatme, in die Lunge – ein Salzkorn schmilzt auf meiner Zunge -, die Konturen sich aufzulösen scheinen – sein Korpus, die Muskeln, nur noch Mund -, während die Hüften wiegend kreisen, ich mich in Zeitlupe ihm ganz öf …

Halt! Stopp! Rote Karte!

Ich erteile meinen Gedanken eine Abmahnung. Allerunterste Schublade. Und verzweifelt versuche ich sie aus mir herauszureißen. Diese neue Seite. Die Fäuste wie einen Schraubstock an den Schädel gepresst, martere ich mich. Was ist nur los mit mir? Stets überfallen sie mich hier – völlig spontan -, diese Bilder, die ich nicht kontrollieren kann

und zucke zusammen – für einen Moment fühlt die Stirn sich gläsern an -, als seine Finger die Wange berühren.

„Warum malst du dich nur so an?“

Unter dem Druck seiner Kuppe glaube ich ein feines Bröckeln zu hören. „Muss das denn sein, mein Schätzelein. Du weißt doch. Wahre Schönheit kann nichts entstellen.“

Unerbittlich nimmt die Erinnerung mich in die Zange – dass ich jetzt bloß nicht zu heulen anfange – das hat mir auch immer mein Ex geflüstert, wenn er das Gesicht mit Pflaster verklebte, bevor er mich zum Krankenhaus brachte. Den Kopf zur linken Seite gedreht, ergab alles einen Sinn.

Wozu sonst, hab´ ich mir gedacht, sind dem Menschen zwei Wangen gewachsen.

Dezent klopft die Lömker an. Bricht in unsere stille Zweisamkeit ein.

Zurück über den Flur im Schlenderschritt, lasse ich ihr Geplapper an mir abgleiten. Bedrängt von dem Wunsch, es in mir zu konservieren – die Berührung, Stimme, auch seinen Blick – vergesse ich beinahe auszuatmen. Schon greift sie nach meiner Tasche in dem Schließfach, als ich von links einen Luftzug spür´. In der Hand noch den Knauf seiner Tür, steht Pfarrer Meister plötzlich vor mir.

„Frau Karger, auf ein Wort.“ Mein Blick huscht an der Flurwand entlang. In seiner Gegenwart fühle ich mich wie die Maus vor der Falle. Verdammt! Alle Löcher schon zugespachtelt. „Verzeihen Sie meine Direktheit. Aber … Sie wollen Franco bei sich aufnehmen? In sechs Wochen, wenn seine Entlassung ansteht? Rebecka, was ist nur in Sie gefahren. Ich bitte Sie, gehen Sie noch einmal in sich. Sie wissen, wie sehr ich Sie als eine von denen schätze, die es wirklich begreifen. Dass der erste Stein in der Hand leider nicht immer dort liegen bleibt. Versuchen Sie sich an unsere Gespräche zu erinnern. Den Menschen hier können wir Hand und Ohr leihen, aber sie vor sich selber retten vermag nur ER.“

Die Fäuste geballt – der Atem fliegt – lehne ich mich an die Wand. Nichts geht mehr mit Pranayama-Technik, der Ballast bleibt heute drin. Und in mir nagt die unbeantwortbare Frage

„Was wollen die eigentlich von mir?“

Selbst mein Herr Sohn hat mir gedroht. Falls ich dem Verbrecher Obdach gewähre, betrete er nie mehr unsere Wohnung. Hat mir das Kindsein aufgekündigt. Ohne Schonfrist. Es einfach vor der Schwelle abgelegt.

***

Der Essigduft verliert sich in der Luft. Okay, schon vorher war der Braten sauer, aber nun sieht die sanft geschmorte Fläche, auf der sich das Fett vom Saucensud trennte, irgendwie schrumpelig aus. Als zögen sich von Zorn gefurchte Falten durch die mittlerweile trockenen Fasern des Fleisches.

Der Zeiger der Uhr steht fast auf Zehn. Er hatte doch versprochen pünktlich zu sein. Schwer tropfen Tränen auf die Wangen. Vermischt mit ein paar Saucenspritzern fühlen sie sich klebrig an. Die Lust auf den Spiegel ist mir längst vergangen. Jetzt hör´ ich den Schlüssel im Schloss sich drehen. Schon wieder vergisst er die Schuhe abzustreifen. Und ohne ihnen einen Blick zu schenken, stürmt Franco an Klößen und Braten vorbei, schnappt sich drei Grüne aus meiner Tasche. Es werde spät, ruft er mir zu. Etwas Geschäftliches. Mit dem Heinz. Mein Herz blutet, denn ich weiß es genau, dass dieser Mistkerl mit Drogen handelt. Den Tatort solle ich mir anschauen, mit Freddie und Max. Der laufe jetzt auf One.

Die Finger gekrümmt wie einst Roy seine Krallen, hänge ich an seinem Arm. Verdammt, wann ist bloß mein Rückgrat verkümmert. „Franco“, flüstere ich, „denk´ an die Regeln. Die hatten wir doch gemeinsam aufgestellt.“

Beinahe lässig holt er aus.

„Na, du bist mir ein Schätzchen“, ruft er, bevor die Tür zuklappt. „Ach, übrigens. Dein neuer Schminkcoach ist wohl ein Clown.“ Mein Rücken rutscht an der Wand entlang. Der Kopf fühlt sich irgendwie klebrig an. Fahrig streiche ich über die Wange. Alles heil! Gottseidank.

Und ich atme tief ein und wieder aus, schnaufe den Ballast aus mir heraus. Öffne mich weit. Mein neues Mantra wächst und gedeiht.

Wahre Schönheit kann nichts entstellen.

 

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