Von Florian Erhardt

„Wenn du die Zeit zurückdrehen könntest, würdest du alles nochmal so machen?“ Laura sieht mich mit großen Augen an.

Ich lehne mich kurz auf der Parkbank zurück, lasse den Blick über die Stadt schweifen, bleibe am wunderschönen Morgenrot hängen. „Klar. Ich liebe dich“, sage ich schließlich.

„Ich dich auch“, antwortet sie und lehnt sich an meiner Schulter an.

Ich schließe die Augen und genieße den Moment.

 

Kurze Zeit später schrecke ich hoch. Müde öffne ich die Augen. Habe ich den Sonnenaufgang wirklich verpasst und bin wie ein Penner auf der Parkbank eingeschlafen? Vorsichtig sehe ich mich um. Ich erschrecke mich direkt wieder. Neben mir lehnt eine wunderschöne junge Frau an der Parkbank und schläft. Ihr langes, braunes Haar fällt auf ihre Schultern. Irgendwie kommt sie mir bekannt vor. Ich stupse vorsichtig ihre Schulter an. „‘tschuldigung?“, frage ich leise.

Sie fährt hoch und sieht mich mit schreckgeweiteten Augen an. „Was?!“

„Ich…“

Sie blickt mich forschend an. „Sag mal, hast du ‘ne Wette verloren oder versuchst du, eine zu gewinnen?“

„Nein…also…ich…“, stammele ich los. „Ich bin Felix.“, bringe ich immerhin heraus.

Sie streckt mir die Hand hin. „Laura. Und was machst du hier?“

Wenn ich das nur wüsste. „Ich bin hergekommen, um den Sonnenaufgang anzuschauen.“ Klingt zumindest logisch. Aber irgendwas anderes…

Laura unterbricht meine Gedanken. „Hmm. Ich auch. Muss wohl kurz davor eingeschlafen sein. Und? Wie war’s?“

„Gut“ lüge ich. Sie muss schließlich nicht wissen, dass ich neben ihr auf der Parkbank aufgewacht bin.

„Also dann…“ Sie steht auf und will sich verabschieden.

„Halt!“, rufe ich.

„Was?“

„Bekomme ich vielleicht deine Nummer?“

Sie lacht auf. „Also willst du doch ‘ne Wette gewinnen?“

 

Vier Wochen später

 

„Also, was sagst du dazu?“, frage ich.

Marco sagt erstmal gar nichts, sondern nippt seelenruhig an seinem Tee.

„Hallo?“

„Naja…klingt schon ein bisschen weird das Ganze, oder? Bist du dir sicher, dass du nicht mehr weißt, was du auf dem Aussichtshügel wolltest? Das mit dem Sonnenaufgang klingt doch logisch, oder?“

„Ja, schon, aber ich hatte weder mein Foto-Equipment dabei noch irgendeine Erinnerung an den Vorabend. Es ist fast als ob das Schicksal…“

Marco unterbricht mich: „Schicksal? Schicksal am Arsch. Sowas gibt’s nicht. Viel wichtiger: Habt ihr schon gefickt?“

Ich sehe meinen Gegenüber entgeistert an. „Ge-was?“, frage ich leise, um die anderen Café-Besucher nicht noch mehr auf unseren Tisch aufmerksam zu machen. Ich finde langsam meine Worte wieder und druckse herum: „Nein, also, so weit…“

„Mensch Felix, du bist 25! Du musst endlich mal performen! Traust du dich etwa immer noch nicht, zu fragen, wo in der Drogerie die Kondome stehen?“

„Ich will es langsam angehen lassen“, sage ich leise.

Marco wirft die Arme theatralisch nach oben und seufzt. „Immer wieder das gleiche mit dir.“

Ich nicke. „Jetzt lass mich doch machen, wie ich denke. Ich bin selber groß.“

Er schüttelt den Kopf. „Sturer, alter Sack. Egal, mach wie du willst. Was anderes, kommst du am Samstag zu der großen Antikriegsdemo? Was die Chinesen da im Ostchinesischen Meer veranstalten…“

Ich schneide ihm das Wort ab. „Ich würde ja…“

„Aber?“

Ich grinse Marco an. „Hab ein Date mit Laura. Und du hast doch gesagt ich soll…performen?“ Theatralisch ziehe ich eine Augenbraue hoch.

Er sieht mich erst ungläubig an, um mir dann eine Ghettofaust entgegenzustrecken. „Respekt, Alter!“

Ich erwidere den Gruß verschmitzt lächelnd.

Marco sieht auf sein Handy und steht dann hektisch auf. „Na gut, war cool mit dir. Muss jetzt aber dringend los, muss die Demo organisieren und hab einen Termin verschwitzt.“

„Alles gut, viel Spaß.“

„Und vergiss nicht, mir zu erzählen, wie es mit Lola gelaufen ist!“, ruft er mir im Gehen zu.

„Laura.“, sage ich ruhig, aber das hört mein Freund schon nicht mehr.

 

Vier Jahre später

 

Erschöpft, aber glücklich liegen wir nebeneinander im Bett.
„Und…“ beginne ich.

Laura grinst mich an. „Wie du warst?“

„Nein, ich…“

„Ob ich dich liebe? Sowieso.“

„Nein, ich, also wir…“, druckse ich herum. „…ob wir jetzt nicht endlich mal zusammenziehen wollen, wollte ich dich fragen.“ Jetzt ist es also raus.

Sie sieht mich mit großen Augen an. „Meinst du wirklich?“

Ich nicke ernst. „Klar.“

Sie runzelt die Stirn. „Aber meinst du wirklich, dass das die momentane Lage hergibt? Also politisch und so? Hast du nicht gelesen, dass die Amerikaner jetzt Truppen…“

Ich unterbreche sie. „Du hörst dich schon an wie Marco.“

„Dein Prepper-Freund?“

Ich nicke. „Mein Apokalyptiker-Prepper-Antiatomkraft-Freund Marco, genau. Aber das ist ja jetzt auch egal, hier geht’s nicht um Marco, auch nicht um die Amerikaner oder die Chinesen, sondern um uns. Also, Schätzele, was sagst du?“

Sie grinst. „Ich finde, dass dein Schwäbisch echt ganz süß ist.“

„Das ist keine Antwort.“, sage ich ernst.

„Also gut, wenn du möchtest, können wir uns Wohnungen anschauen.“

Ich grinse – fast wie ein Honigkuchenpferd – während ich fein säuberlich abgeheftete, ausgedruckte Angebote von immoscout24 aus der Schublade in meinem Nachttisch hole.

 

Vier Monate später

 

Während wir auf den Hügel über der Stadt steigen, wird das Déjà-vu-Gefühl immer stärker. „Irgendwie kommt mir das bekannt…“, murmele ich.

„Was?“, unterbricht Laura meine Gedanken.

„Nix. Wahrscheinlich nur müde.“ Ob sie ahnt, dass ich ihr heute einen Antrag machen will?

Sie bleibt stehen und stemmt die Hände in die Hüften. „Was kommt dir bekannt vor?“

„Naja, hier haben wir uns schließlich das erste Mal getroffen, oder?“, druckse ich herum.

„Stimmt.“ Sie runzelt die Stirn. „Komisch. Irgendwie habe ich auch das Gefühl…“ sie winkt ab. „Naja. Wahrscheinlich nix.“

In Gedanken versunken laufen wir die letzten Meter zum Aussichtspunkt. Noch liegt die Stadt schlafend unter uns. Ich lasse die Szenerie kurz auf mich wirken, atme tief durch.

Laura reißt mich aus meinen Gedanken. „Jetzt rück den Ring schon raus!“, sagt sie neckend.

Ich spiele kurz den Überraschten. „Den was? Sehe ich etwa aus wie Gollum?“

Sie lächelt mich wissend an. „Klar.“

Ich nehme sie sanft bei den Schultern, küsse sie auf den Mund. Und in diesem Moment sind plötzlich alle Erinnerungen wieder da. „Oh“, entfährt es mir.

Auch Laura scheint sich zu erinnern. Sie sieht vorsichtig in das Morgenrot im Osten.
„Und?“, frage ich. „Würdest du…“

Laura legt mir den Finger auf die Lippen und sieht mich eindringlich an. „Nicht nochmal, Felix.“

„Aber—“

„Nix aber. Wir können doch die Vergangenheit nicht in Endlosschleife laufen lassen.“

Ich seufze und starre in den Sonnenaufgang. „Na gut.“ Ich kann meinen Blick nicht vom Himmel abwenden. Der Feuerball am Horizont steigt viel zu schnell und nimmt mir so die Illusion, dass er die Sonne sein könnte.

Laura streichelt mir sanft über die Wange. „Schau dir das doch nicht an. Ich bin viel schöner.“

Ich beuge mich zu ihr herüber und küsse sie auf den Mund. „Ich liebe dich“, säuseln wir uns gegenseitig zu, während in der Stadt unter uns die Sirenen beginnen zu heulen.

 

 

„Now, I am become Death, the destroyer of worlds.“ – Robert Oppenheimer

 

feh/122021

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