von Franck Sezelli

 

Dieter erinnert sich noch sehr genau. Es war im Herbst 2018, als er seine alte Heimatstadt Leipzig besuchte, um zu sehen, wie sie sich entwickelt hat. Er hoffte, beim Bummel durch die Stadt, die er vor über 30 Jahren verlassen hatte, den Arbeitsstress der letzten Wochen abbauen zu können.

In Gedanken versunken, lief er die – wie aus der Vergangenheit gewohnt von vielen Fußgängern bevölkerte –  Hainstraße entlang, als er heftig mit einem Mann zusammenstieß. Er schaute auf und murmelte: »Verzeihung!«, um gleich danach ein zweifelndes »Herbert …?« auszurufen.

Der Angerempelte sah den Fragenden mit Erstaunen an. »Bist du es wirklich, … Dieter? Wo kommst du denn her?«

»Na, ich wollte mich mal wieder in der alten Heimat umsehen.«

»Das ist aber wirklich eine Überraschung. Wielange haben wir uns nicht gesehen? Das ist doch eine Ewigkeit her!«

»Ja, bestimmt über 30 Jahre … Lass mich rechnen, es sind schon 33 Jahre … Sag mal, hast du ein bisschen Zeit? Können wir uns hier irgendwo reinsetzen, einen Kaffee oder ein Bier trinken und ausführlicher miteinander schwatzen? Ich lade dich ein …«

»Mmhh … Warum nicht? Zeit habe ich eigentlich, habe heute gerade nichts weiter vor. Lass uns doch in ›Auerbachs Keller‹ gehen.«

 

»Und? Wie ist’s dir ergangen? Wie geht es dir und deiner Marlies?«

»Marlies ist nicht mehr meine Frau, wir sind geschieden.«

»Oh! Das wusste ich nicht. Ihr wart doch immer so ein gutes Paar …«

»Ja, von außen sieht manches anders aus. Aber irgendwie ging es nicht mehr weiter. Ich fühlte mich nicht glücklich, wurde immer unzufriedener. In unseren Ansichten und Vorhaben stimmten wir weitgehend überein, auch in der Kindererziehung gab es höchstens kleine Differenzen. Aber insgesamt fehlte mir etwas. Vor allem wohl etwas mehr Zuwendung und Zärtlichkeit. Besonders deutlich ist mir das geworden, als ich mich ziemlich verführerischen Aufmerksamkeiten einer jungen Frau gegenüber sah.«

»Nun aber mal der Reihe nach. Ihr wart doch immer wie ein Herz und eine Seele, habt sogar bei manchen Projekten im Betrieb auch eng zusammengearbeitet. Ich habe mich mit Marlies auch immer gut verstanden, sie ist doch eine prima Frau und Kollegin gewesen.«

»Das ist sie immer noch! Inzwischen verstehe ich mich mit ihr auch wieder sehr gut. Wir haben auch guten Kontakt. Aber zu einer Ehe gehört doch noch mehr.«

»Du meinst Sex? War es das?«

»Wenn man alles stark vereinfacht, kommt man wohl auf ein solches Ergebnis. Ja! Dabei habe ich die Treue immer für sehr wesentlich gehalten, hätte nie gedacht, dass ich mal fremdgehe. Dann ist es dann aber doch passiert.«

»Wenn du mir das erzählen willst, gern. Aber vorher möchte ich doch noch von dir wissen, wo du heute arbeitest. Was haben die Wendewirren mit dir gemacht?«

Herbert prostete seinem alten Kollegen Dieter freundlich zu, nippte an seinem Pils, holte tief Luft und begann zu erzählen. »Du wirst es nicht glauben, aber ich bin die ganze Zeit bei Kirow geblieben, in der Entwicklung und Konstruktion wie du damals auch. Auch Marlies blieb da, selbst nach der Scheidung. Trotz aller Umgestaltungen, Fusionen, Besitzer- und Namenswechsel, sind wir beim Krananlagenbau geblieben, jetzt speziell bei Eisenbahnkranen. Heute bin ich Abteilungsleiter. Und du, was machst du?«

»Als ich ’85 nach Eberswalde ging, du erinnerst dich sicherlich, bin ich ja unserem Kombinat TAKRAF auch treu geblieben.«

»Wir gehörten ja damals auch zu TAKRAF, klar. Aber was machst du heute?«

»Ich bin ’89 in den Westen, nach ein paar abenteuerlichen Irrläufern und Versuchen bin ich schließlich wieder bei Kirow gelandet, man glaubt es kaum, und zwar bei der Zweigniederlassung in Ulm. Ich bin auch wieder ein stolzer Kirower.  Wir sind also wieder Kollegen! Darauf bestelle ich uns noch ein Bier und du erzählst mir weiter von deinem Fremdgehen.«

»Wie das klingt … Aber es stimmt ja. Kurz nach deinem Weggang aus Leipzig kam eine Praktikantin in unsere Abteilung. Bettina hatte einen Fachschulabschluss und arbeitete in einem Ingenieurbüro in Altenburg. In einem Fernstudium wollte sie noch den Diplom-Ingenieur machen. In unserer Abteilung sollte sie vor allem ihr Diplomthema bearbeiten. Und ich bin ihr als Betreuer zugeordnet worden, schließlich war ich damals schon Dr.-Ing.«

»Und die Betreuungsaufgabe hast du wohl zu eng aufgefasst?«, konnte sich Dieter die Bemerkung nicht verkneifen.

Herbert ging darauf nicht direkt ein, sondern setzte seine Geschichte fort. »Die Zusammenarbeit brachte es mit sich, dass ich mit Bettina öfter allein in einem Büro war, häufig bis in die Abendstunden. Sie war ja nur stundenweise bei uns, vor allem, um den Fortgang ihrer Diplomarbeit zu besprechen. Schließlich arbeitete sie noch, machte das Fernstudium nebenbei.«

»Ich ahne, worauf das hinausläuft«, warf Dieter ein.

»Jedenfalls machte mir Bettina nicht nur schöne Augen, sondern echte Avancen. Sie sparte nicht mit Komplimenten und versteckten Anspielungen. Auch recht naher  Körperkontakt brachte mich immer öfter in Verlegenheit – und schließlich in Versuchung. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann mir zuletzt eine Frau so offen gezeigt hat, dass sie mich will. Dabei ist sie acht Jahre jünger als ich und recht attraktiv.«

»Hübscher als Marlies?« Diese typisch männliche Frage rutschte Dieter einfach heraus.

»Das würde ich gar nicht sagen«, antwortete Herbert, »aber darauf kommt es gar nicht an, sie ist ein gänzlich anderer Typ.« Er schaute in der Erinnerung versunken in den belebten Gastraum, ohne von der Umgebung etwas mitzubekommen. »Sie machte mich eben einfach an. So blieb der erste Kuss nicht lange aus. Und dann ergab sich auch eine Gelegenheit, die Beziehung weiter zu vertiefen. Marlies war eine Woche lang auf einer Tagung.«

»Da bist du mit Bettina … Nomen est Omen?«

»Ach, Dieter, du bist so albern wie ich dich von früher kenne. Aber mir und uns war es ernst. Danach war nichts mehr wie vorher. Ich habe mir furchtbare Vorwürfe gemacht wegen meiner Untreue, habe es aber nicht fertiggebracht, mit Bettina aufzuhören. Dabei hat mir der Altersunterschied sehr große Kopfzerbrechen bereitet. Obwohl acht Jahre nicht viel klingen, merkte ich doch damals schon, dass dies in manchen Meinungen, Gewohnheiten und Erfahrungen einiges an Differenzen bedeuten kann.«

»Marlies ist dahintergekommen und so kam es zur Scheidung?«, fragte Dieter.

»Ganz so nicht, ich habe Marlies reinen Wein eingeschenkt. Und obwohl sie unsere Ehe retten wollte, habe ich mich dann für Bettina entschieden, so unvernünftig das für Außenstehende aussah und selbst mir manchmal so erschien. Aber so bin ich halt, blieb konsequent. Ich sagte mir, wenn alles in Ordnung gewesen wäre, so wäre es nie zu diesem ›Ehebruch‹ gekommen. Denn ich war nie so ein leichtsinniger Hallodri. Also habe ich Nägel mit Köpfen gemacht, im Frühjahr war ich geschieden und im Sommer war Bettina meine Frau. In der DDR ging das damals so schnell.«

Dieter staunte. »Da bist du jetzt also ein gutsituierter Mann mit einer jungen attraktiven Frau und einem relativ sicheren Arbeitsplatz.«

»So jung ist auch Bettina nicht geblieben. Sie ist jetzt auch schon Mitte Fünfzig. Und außerdem hat unsere Ehe nur fünf Jahre gedauert.«

»Waaaas? Da war deine Entscheidung für Bettina, gegen Marlies, also doch recht unvernünftig …«

»Was heißt unvernünftig? Seit wann spielt im Zustand des Verliebtseins die Vernunft eine große Rolle? Vernunftehen gab es früher, und für mich hört sich dieser Begriff auch nicht gut an.«

»Da bist du nun ein einsamer, verbitterter, von den Frauen enttäuschter Mann? Aber so wirkst du gar nicht auf mich.«

»Bin ich auch nicht! Ich bin glücklich, habe endlich die Liebe meines Lebens gefunden und mit ihr schon Silberhochzeit gefeiert.«

»Na, das ist ja ein unerwarteter Wendepunkt. Da ist mein Leben gegen deines echt langweilig.«

»Nicht doch! Lass uns auf die Liebe und die Frauen anstoßen!«

Die beiden Männer prosteten sich zu, tranken aus und bestellten noch ein Bier.

»Die ersten drei Jahre waren wir ein glückliches Paar, haben viel gemeinsam unternommen, auch tolle Reisen gemacht. Nach dem Sommerurlaub in Ungarn war Bettina schwanger. Wir beide haben das Leben mit unserer kleinen Tochter genossen. Bettina entpuppte sich als eine gute Mutter. Sie wünschte sich schnell ein zweites Kind, das auch ein reichliches Jahr nach der Geburt des ersten Babys die Welt erblickte.«

»Und dann kam der komplizierte Alltag in der größer gewordenen Familie und mit ihm das Liebes-Aus?« Dieter schien sich da auch auszukennen.

»Nein, nicht ganz so. Wir waren glücklich und stolz auf unsere kleinen Mädchen. Die Alltagsaufgaben teilten wir uns, so gut es ging. Wir waren ja beide berufstätig und die Gleichberechtigung haben wir gelebt – wie früher auch mit Marlies. Aber so nach und nach kamen die Unterschiede zur Geltung, denen wir anfangs nicht so große Bedeutung beigemessen hatten. Bettina war eifersüchtig auf meine Vergangenheit, auf von mir gemachte Erfahrungen. Es gab Meinungsverschiedenheiten in weltanschaulichen Fragen und zum Beispiel im Umgang mit Geld. Sie war in vielen Dingen lockerer als ich, empfand mich da oft als zu …, wie soll ich es sagen, zu spießig. Jedenfalls fing sie eine Affäre mit ihrem Abteilungsleiter an, sie hatte inzwischen mit der Qualifikation als Diplomingenieur die Arbeitsstelle gewechselt. Da war zu allem Unglück auch noch die angespannte Situation im Land in der Umbruchszeit. Unsere Ehe war am Ende.«

»Hast du deine unvernünftige Entscheidung bereut?« Dieter schien die Antwort klar.

»Zunächst war ich natürlich am Boden zerstört nach zwei gescheiterten Ehen in so kurzer Zeit. Aber heute denke ich anders über mein Leben. Was wäre denn, wenn ich nicht so ›unvernünftig‹ gewesen wäre? Meine beiden Töchter haben sich prächtig entwickelt, haben beide einen soliden Beruf und haben mir inzwischen liebe Enkel beschert. Niemand möchte sie missen, am allerwenigsten ihre Mutter und ich. Es hat alles seinen Sinn.«

 

Seit diesem Gespräch sieht Dieter vieles im Leben nicht nur von einer Seite. »C’est la vie !«, sagt er, wenn etwas widersprüchlich erscheint.

 

 

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