Von Luise Hein

 

So lange hatte der kleine Stern gewartet. Unten, in dem dunklen Keller. Sicher und warm verpackt in der Weihnachtskiste mit Kugeln und Lichterketten. Wie jedes Jahr spürte er, dass es bald Zeit war, in die Wohnung im ersten Stock getragen zu werden. Er wachte dann jeden Morgen mit einem kribbeligen Gefühl auf und blickte gespannt auf den Schlitz im Deckel der Kiste. Bald würde der große Mann kommen, den sein Freund “Papa” nannte, sich hinunterbeugen und die Kiste vier Treppen hoch tragen. In der Wohnung angekommen, würde der blonde Junge mit glänzenden Augen die Kiste aufmachen und die Aluminiumarme des kleinen Sterns greifen. Vor einem Jahr konnte er den Stern bereits allein aus der Kiste heben, obwohl der doppelt so groß war wie sein Kopf. Der Papa würde dann laut rufen: “Paul, Vorsicht!” Und die Mama: “Schön festhalten und zur Fensterbank tragen!” Einer der Erwachsenen würde an seinem Kabel ziehen und in die Dose stecken. Denn um seine Arme ranken sich unzählige Lämpchen, die dann in gelb, grün, blau und rot zu leuchten beginnen. Der  kleine Stern würde dann selbst an seinem Platz in funkelnde Gesichter schauen.

 

Wie viele Schmetterlinge in seinem Bauch flatterten, konnte er gar nicht zählen, als alles um ihn herum zu schaukeln begann. Endlich war es soweit. Wie  Paul wohl nach einem Jahr aussah? Ob er schon selbst den Stecker in die Dose bekam? Freut er sich so sehr wie er selbst? So viele Fragen hatte der kleine Stern, als der Duft von Plätzchen und Tannenzweigen in seine Kiste stieg, und dann das Licht. Der Blondschopf steckte seinen Kopf in die Kiste und packte ihn mit beiden Händen. Ein breites Lachen zog sich über das Gesicht, als er ihn in die Höhe hob. Der kleine Stern sah sofort die Lücke zwischen Schneide- und Eckzahn und freute sich noch mehr. Auch der Griff von Paul fühlte sich viel sicherer an, als im letzten Jahr. Mit schnellem Schritt setzte sein Freund ihn auf das Fenstersims. Da fiel es dem kleinen Stern das erste Mal auf. Die Wohnung war dunkler als sonst. Er konnte weder üppige Lichterketten noch Kerzen oder einen Weihnachtsbaum sehen. Doch! Da war etwas. Als er genau hinschaute, sah er in der linken Ecke des kleinen Wohnzimmers Tannenzweige, die aus einer roten Vase schauten. An ihnen hingen rote Kugeln und Strohengel.  Auch die heiße Luft unter seiner Fensterbank war dieses Jahr verschwunden.

 

Doch sein Freund lenkte den kleinen Stern ab, indem er an seinem Kabel nestelte. Gleich war es soweit. Da legte der Papa aber seine große Hand über Pauls Finger und schüttelte bedächtig den Kopf: “Dieses Jahr wird dein Stern einfach so bei uns stehen.”

 

Nun stand der kleine Stern auf seinem alten Platz. Doch wenn es dunkel wurde, erleuchteten seine Farben nicht das Schwarz. Er schaute nur in das trübe Grau der Straße. Auch die war schwärzer als all die Jahre zuvor, denn die Tannenbäume vor den Gärten waren leer. Niemand hatte Lichterketten um sie gebunden. So konnte der kleine Stern die Spaziergänger gar nicht mehr richtig sehen. Sie wurden blasse Gestalten, die durch eine dunkle Welt wanderten. Manchmal meinte er, dass die Köpfe immer tiefer sanken.

Auch ihm wurde jeden Tag kälter. Er hörte Paul weniger lachen, aber jeden Abend nach dem Stern fragen und dann die Enttäuschung. Sobald Paul im Bett lag, berieten sich die Eltern. Meist endete es in langen Vorträgen der Mutter: “Mathias, ich weiß, dass der Stern keinen Unterschied macht! Wir haben uns doch geeinigt! Irgendwo müssen wir vernünftig sein. Wer weiß, was nächstes Jahr alles kostet.” Mit ruhiger Stimme antwortete der Papa oft: “So schlimm wird es nicht” und nahm dann seine Frau in den Arm. So standen sie da und endeten meist unter Tränen, dass der verlorene Job und das bescheidene Weihnachten nicht so schlimm seien. Es gab gerade Menschen mit größerem Schmerz. Auch dem Stern wurde es dann schwer ums Herz und er wünschte sich, Weihnachten dieses Jahr einfach zu verschlafen.

 

Dann kam der Heilige Abend. Mit geschlossenen Augen vernahm er allerlei Rascheln, Poltern und Klopfen. Bestimmt war das Christkind gerade gekommen und hatte schillernde Geschenke neben die rote Vase mit Tannenzweigen gelegt. Kurz spürte der Stern ein warmes Strahlen, beschloss aber dennoch keine Hoffnung zu haben.

Das Grau vor seinem Fenster wurde zu Schwarz und irgendwann ertönten die bekannten Stimmen. Paul lief zu den Paketen und schüttelte eines nach dem anderen. Sein kindliches Lachen erfüllte den ganzen Raum. Doch bevor er die Geschenke öffnete, rief er ganz laut: “Meinen Stern! Bitte!” Zwar konnte der Stern den Papa nicht sehen, aber das musste er auch nicht. Denn er hörte. Er hörte nichts. Das Lachen von Paul verstummte. Der Junge ließ sich neben dem Weihnachtsbusch auf den Boden sinken: “Das ist ein ganz blödes Weihnachten!” Der Stern hörte, wie er mehrmals seine Nase hochzog. Weinte sein Freund? Da ging der Papa zu der Mama, die verzweifelt ein Geschenk nach dem nächsten vor Paul aufbaute. “Komm, Sabine”, hörte er die tiefe Stimme des Mannes. Und dann Stille. Der Stern war so traurig, dass er sich nur noch in den Schlaf summen wollte.

 

Plötzlich spürte er eine Hand hinter sich, warm und herzlich. Sie griff nach seinem Stecker und zog das Kabel lang und steckte den Stern ein. Von einer Spitze zur nächsten durchströmte ihn plötzlich die Wärme, auf die er das ganze Jahr gewartet hatte. Er leuchtete wieder. Gelb. Grün. Rot. Und blau. In den dunklen Winterhimmel hinein. Sofort sprang Paul zu seinem Freund und das breiteste Lachen offenbarte wieder seine Zahnlücke. “Danke Papa!” Der Papa lachte: “Mama ist Weihnachten mal unvernünftig!” Das scharfe “Mathias” der Mama verhallte schnell, denn der Stern leuchtete. Sein Herz platzte fast vor Freude und nicht nur hinter ihm spürte er festliche Stimmung. Nein, auch die Menschen, die unter ihm vorbeiliefen, hoben plötzlich den Kopf. Der Nachbar mit der weiten Jogginghose schüttelte zwar den Kopf, aber in die meisten Augen kehrte ein dankbares Glänzen zurück. Da dachte der Stern an die traurigen Menschen, die mit dem größeren Schmerz. Für sie wollte er noch viel heller scheinen, als sonst.

 

Also nahm er all seine Kraft zusammen und konzentrierte sich auf seine Farben. Im Kopfsteinpflaster vor ihm sah er sich scheinen. Er wurde ganz stolz und dachte an die Freude, die er damit in die Welt tragen konnte. Der Stern baute sich ganz hoch auf, spürte in all seine Lämpchen und… Ein lauter Knall. Glassplitter. Die Lampenkette war zersprungen. Ein Gerippe aus Aluminium ragte über den bunten Trümmern auf der Fensterbank. Dunkelheit.

 

 

 

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