Von Marianne Apfelstedt

 

„Red, sind Sie sicher, dass Sie allein zurechtkommen?“, fragte mich Dr. Berntsen. Als sie meine gefurchte Stirn bemerkte, beschwichtigte sie: „OK. Auf jeden Fall ist hier eine Visitenkarte mit meiner privaten Handynummer für Notfälle!“ Ich nahm die Karte und sah direkt in ihre Augen, die meinem Blick aufrichtig und ohne zu blinzeln standhielten.
Die Zunge klebte mir am Gaumen, mühsam formte ich Worte:„Danke! Hoffentlich sehen wir uns nicht wieder.“ Ich nahm meinen Rucksack und verließ das Arztzimmer. Die zitternden Hände steckte ich tief in die Taschen meiner Jacke, ballte sie zu Fäusten. Unter der Lederjacke pappte mein Shirt am Rücken fest. Mit jedem Schritt, den ich Richtung Ausgang hinter mich brachte, klopfte mein Herz weniger hart in meiner Brust. Die Straßen bis zum Bahnhof waren am frühen Morgen menschenleer. Im Zug suchte ich mir ein leeres Abteil. An jeder Haltestelle ließ ich etwas von meinem Ballast zurück.

 

Nach dem blassen Kunstlicht in der Bahn ließ die strahlende Märzsonne meine Augen tränen. Vor dem Bahnhof schälte ich mich aus der Jacke und stopfte die schwarze Kluft in den Rucksack. Die Sonnenstrahlen drangen durch mein langärmliges Shirt. Ich strich mir das streichholzkurze Haar nach hinten und setzte die Cap auf. Der Weg über die Hauptstraße weckte Erinnerungen an einen rebellischen Teenager mit roten langen Haaren, denen ich meinen Spitznamen verdankte. Beim Anblick des kleinen Häuschens mit den grünen Fensterläden biss ich mir auf die Lippen. Der Schlüssel war immer unter der Fußmatte versteckt. Die Messingklinke lag vertraut in meiner Hand, als ich eintrat.

„Omama, ich bin wieder da.“ Mein Weg führte mich in die Küche. Weiß und Holz und blitzblank. Ich stellte den Rucksack ab und trat durch das Esszimmer in die gute Stube. Sie lag auf der Ledercouch mit einer bunten Patchworkdecke, die wir zusammen gehäkelt hatten. Meine schiefen Quadrate stachen mir sofort ins Auge. Viele weitere Linien hatten sich in das geliebte Gesicht gegraben. Ich setzte mich auf den Sessel ihr gegenüber.

 

„Marie, warum weckst du mich nicht? Ich habe dich gar nicht gehört.“ Sie setzte sich auf und faltete die Decke zusammen.

„Es war so ruhig und friedlich, da bin ich wohl eingeschlafen.“
„Der Sessel war schon immer dein Lieblingsplatz. In deinem Zimmer ist noch alles wie früher.“ Sie wirkte so viel kleiner, als ich sie in Erinnerung hatte. Ein Kloß ließ mich schwer schlucken. Omama sah mich an, mit so viel Liebe im Blick. Sie klopfte auf den Platz neben sich. Mehr brauchte es nicht. Mit zwei Schritten saß ich bei ihr auf dem Sofa, legte meinen Kopf auf ihre Schulter. Tauchte ein in eine Mischung aus Lavendel und Tosca. Kindheitsduft. Jetzt flossen die Tränen, aufgestaut in Monaten. Sie umarmte mich und strich mir mit der Hand über Kopf und Rücken. Gab mir Halt, bis ich mich beruhigt hatte.

„Jetzt lass dich mal ansehen. Mit der neuen Frisur siehst du sehr erwachsen aus. Die kurzen Haare stehen uns beiden gut. Im Krankenhaus sind lange Haare einfach hinderlich. Den alten Zopf vermisse ich kein bisschen.“ Ihr herzhaftes Lachen klang genau wie früher.

„Es tut mir so leid, dass ich dich nicht besucht habe. Als Papa mich über deinen Unfall informiert hat …“ Ich holte tief Luft, um es auszusprechen, doch mein Hals fühlte sich rau und kratzig an.

„Das hat Zeit, jetzt bist du ja hier. Komm mit, ich habe noch eine Suppe, die machen wir jetzt warm und dazu eine Tasse Tee. Du hast bestimmt Hunger.“ Sie zwinkerte mir zu und stand mithilfe der Gehstützen auf.

„An diese Dinger musste ich mich erst einmal gewöhnen, aber mittlerweile haben wir uns angefreundet. Die neue Hüfte fühlt sich nach dem Aufstehen immer noch etwas steif an.“

Beim Abendessen schilderte sie mir in lebhaften Bildern ihre Rehabekanntschaft. Ich lauschte ihrer Stimme, froh nicht reden zu müssen. Ihre Blicke ruhten immer wieder fragend auf mir, doch sie drängte mich nicht.

„Geh ruhig zu Bett, wenn du müde bist. Ich werde noch etwas lesen.“

„Gute Nacht.“ Hundemüde schlüpfte ich unter die Bettdecke, der Lenorduft wehte mich in den Schlaf.

Stunden später erwachte ich in meine Decke verwickelt. Traumfetzen tanzten haltlos in der Dunkelheit. Wummernde Beats. Kalte Wand im Rücken. Grobe Hände. Riss.

Zitternde Hände schoben die Decke zur Seite. Auf wackeligen Beinen schlich ich in das Bad. Der heiße Wasserstrahl spülte die Traumfesseln in den Ausguss. Ich rubbelte jedes Stück meiner Haut mit dem Handtuch trocken. Fertig angezogen trat ich in die Küche, wo die Kaffeemaschine vor sich hin blubberte.

„Prima, du bist schon wach. Ich habe uns Brötchen zum Frühstück geholt.“ Der starke Kaffee belebte mich und die Semmel mit Himbeermarmelade erinnerten mich an Kindertage.

„Kommst du mit in den Garten? Die Gemüsebeete müssen umgegraben werden.“
„Ich helfe dir gerne.“
Ein zweites Paar Gummistiefel fand ich im Schuhschrank. Da die Gehstützen im Garten hinderlich waren, hatte sich Omama einen Gehwagen besorgt. Im Korb lagen Scheren und Handschuhe. Mit der Teleskop-Astschere konnte sie im Stehen die Triebe bodennah abschneiden. Sie schnitt Johannisbeeren zurück und überließ mir das Gemüsebeet. In der Gartenhütte packte ich Gartengeräte in die Schubkarre und fuhr damit an das Beet hinter dem Haus. Ich rammte den Spaten in die Erde, brach sie auf. Bald hatte ich meinen Rhythmus gefunden. Stechen, Erde ausheben und zerkleinern. Auf den Knien zog ich fiese Gierschwurzeln heraus. Die Wurzelschnüre aus meiner Vergangenheit lassen sich nicht so leicht ausmerzen. Am späten Nachmittag trieb uns ein Regenschauer zurück ins Haus.

„Marie, für deine Hilfe lade ich dich auf eine Pizza zu Luigi ein. Er ist zwar in die Jahre gekommen, doch seine Pizza ist die beste in der ganzen Gegend.“

„Eine gute Idee. Pizza Hawaii ist immer noch meine Lieblingspizza.“

„Dann zieh dich um. Luigi öffnet in 30 Minuten und ich habe einen Bärenhunger.“ Von Vorfreude erfüllt rannte ich die Treppen nach oben.

In der kleinen Pizzeria stand die Zeit still. Hier hatten wir meinen ersten Schultag gefeiert, genauso wie den Schulabschluss.

„Buongiorno Signora. Heute in Begleitung?“, begrüßte uns Luigi. Er führte uns an unseren Lieblingstisch in der Ecke.

„Mein lieber Luigi, meine Enkelin Marie ist zu Besuch und wir haben einen Bärenhunger.“

„Marie, Bella Donna. Ich hätte dich nicht erkannt. Was darf ich bringen? Pizza Hawaii und Chianti?“

„Mit der Pizza liegst du richtig, aber ich möchte lieber eine Apfelschorle trinken.“

„Eine gute Wahl, Marie. Für mich auch eine Apfelsaftschorle. Wir haben im Garten gearbeitet und sind durstig.“

„Bene, Grazie! Pizza Hawaii und Apfelschorle kommt sofort.“

Wir tranken unsere Schorle und sie erzählte mir, welche Gemüsesorten sie dieses Jahr ausgesät hatte. Die Pizza war dick mit Käse belegt, der beim Zerteilen Fäden zog. Würziger Schinken und saftige Ananas, eingerahmt vom knusprigen Rand. Wir grinsten uns über den Tisch hinweg an, jede eine Pizzaecke in der Hand, in die wir herzhaft hineinbissen. Köstlich.

 

Wummernde Beats und gierige Hände rissen mich aus dem Schlaf. Ich rollte mich zur Kugel, glitt wimmernd in den Schlaf zurück. Hände, überall Hände. Ich versuchte sie abzuschütteln.

„Ich bin da. Es ist nur ein Traum. Marie wach auf.“ Ich lag still, hörte die vertraute Stimme. Spürte zarte Hände und öffnete die Augen. Omama streichelte meine Hände und wischte eine Träne von meiner Wange.

„Ich weiß, dass du in der Suchtklinik warst.“ Sie sah mich freundlich an und endlich bekam mein Wall einen Sprung. Wie eine Flut sprudelten Worte hervor.

„Ein Kunde vom Friseursalon lud mich auf einen Drink ein … Ich traf mich jeden Tag mit Arno. Wohnte in seiner Wohnung … Ich wollte dazugehören und trank immer mehr. Eines Abends ging es hoch her … Eine Party mit lauter Musik … Ich erinnere mich nur an kalte Wände … Hände und Schmerzen. Ich erwachte in einem Krankenhausbett. Mir fehlten 24 Stunden. Nacht für Nacht holen sie mich ein, martern mich.“

„Meine arme Marie. Als ich jung war, gab es auch für mich eine Zeit mit Albträumen. Mit der Zeit verblassen die Quälgeister der Nacht. Ich bin ganz sicher.“ Sie legte sich neben mich, hielt mich, hielt meine Hand und summte mir Schlaflieder ins Ohr. Gegen Mittag weckte sie mich, nach einem kleinen Imbiss gingen wir in ihr Gewächshaus.

„Jetzt bist du dran. Nimm dir das Kästchen mit den Sämlingen der Ochsenherztomaten und setze immer eines in ein Töpfchen mit Anzuchterde.“ Sachte nahm ich die Pflanze mit dem Pikierstab auf. Meine Hand zitterte, darum brauchte ich viel länger als Omama, um den Winzling einzusetzen. Erde vorsichtig festgedrückt. Fertig. Jetzt sind es nur noch 100 weitere. Puhh.

 

„Schau sie dir an, sie sind prächtig gewachsen in den letzten Wochen. Heute setzen wir die kräftigsten Gemüsepflanzen in größere Töpfe.“ Die Pflanzen waren inzwischen so lang wie mein Unterarm und konnten an geschützte Plätze ins Freie umziehen. Nach stundenlanger Arbeit im Garten fiel ich todmüde ins Bett. Die Alpträume weckten mich nur noch selten.

 

Jetzt im Sommer besuchte Omama immer wieder ihre Freundin im Nachbarort. Ich schmierte mir mittags zwei Brote mit Butter und bestreute sie mit Kräutersalz. Unter den Arm klemmte ich mir eine Orangenlimonade. Im Garten suchte ich mir einige rote Tomaten aus und setzte mich zufrieden auf die Terrasse. Tomaten mit Butterbrot schmeckten für mich nach Sommer.

 

Am nächsten Tag begrüßte mich schon morgens ein blauer Himmel. Verstreute Wattewolken schoben sich vor die Sonne und ließen mich frösteln. Ich rieb mir die nackten Arme und lief rasch das kurze Stück bis zum Briefkasten am Gartenzaun. Als ich die Tageszeitung aus dem Kasten zog, rutschte ein Brief an mich heraus. Auf dem Rückweg klemmte ich mir die Zeitung unter den Arm, ich riss das Kuvert auf und lass den kurzen Text.

 

Wir möchten Ihnen mitteilen, dass Arno Neidlinger am 13.07. verstorben ist. Beim Ausräumen seiner Wohnung wurde Ihr Personalausweis gefunden. Dieser kann bei der Hausverwaltung abgeholt werden. ….

 

 

 Version 2  9924 Zeichen