Von Ingo Pietsch

Ich war echt spät dran. Und das schon zum dritten Mal in dieser Woche.

Mein Chef würde mir den Kopf abreißen und mir eine Abmahnung schreiben. 

Oder umgekehrt.

Dabei waren wir gerade mit einem ganz wichtigen Projekt beschäftigt, das von ganz oben beaufsichtigt wurde. Und da durfte und wollte ich auch nicht fehlen.

Bine, eigentlich Sabine, meine fünfjährige Tochter, trödelte schon wieder herum und hatte sich gerade mal einen Schuh angezogen.

Ich stand schon fix und fertig mit Aktentasche und Thermosbecher in der Tür und wartete.

Mein Mann war auf Montage und schon seit dem Morgengrauen unterwegs.

Bine war im Trotzalter. Je mehr man sie unter Druck setzte, desto langsamer wurde sie.

Ich beobachtete meine Kleine, wie sie ganz akkurat die Schuhzunge hochzog und die Schleife zuband.

Dann machte sie sich an den zweiten Schuh.

Ein Blick auf die Uhr im Flur verriet mir, dass ich es gerade noch pünktlich zur Arbeit schaffen würde.

Ich hatte inzwischen ihre Tasche geholt.

Bine zog sich die Jacke an und kämpfte dabei mit den Ärmeln, die sie wieder nicht herausgezogen hatte, weil sie gestern nach dem Kindergarten zuhause so dringend auf Toilette gemusst hatte.

Still sahen wir uns an. Ich lächelte sie an und umarmte sie, dann gingen wir raus zum Auto.

Egal was ich sagen würde, sie aufmuntern oder loben, würde eine Diskussion entfachen. 

Sie würde dann einfach in der Einfahrt stehen bleiben und schmollen.

Dafür hatte ich jetzt wirklich keine Zeit.

Ich liebte meine Tochter, aber wir waren auf das Geld angewiesen und für den ewigen Kampf wegen Kleinigkeiten hatte ich jetzt überhaupt keine Nerven.

Ich hielt ihr die rechte Hintertür auf. Manchmal war das ein Fehler. Da wollte sie das selber machen und sich auch alleine anschnallen. Ich war dann schon angeschnallt und wenn sie Probleme mit dem Gurt hatte, musste ich noch mal aussteigen.

Heute ließ sie sich ohne Murren helfen.

Vielleicht lag es daran, dass wir uns gestern Abend noch wegen solcher Dinge gestritten und schließlich wieder versöhnt hatten.

Mir tat meine Kleine dann auch Leid, aber in dem Alter konnte sie mich wahrscheinlich nicht richtig verstehen.

Es war diesig und die Straße nass.

Ich bog aus unserer Spielstraße auf die Hauptstraße ab und hantierte an der Lüftung, weil die Frontscheibe ständig beschlug.

Ich blickte kurz in den Rückspiegel.

Bine schaute zum Seitenfenster heraus. Sie hauchte gegen die Scheibe und malte still mit dem Finger Bilder auf das Glas. 

Sie hielt mit der anderen Hand ihre Puppe fest umschlossen, die immer im Auto lag.

Plötzlich tauchten vor mir Bremslichter auf und ich erschrak und trat voll auf die Bremse.

Mein Wagen blieb abrupt stehen, während die Rückleuchten meines Vordermannes kleiner wurden.

Ich spürte einen Schmerz in der Schulter, wo der Sicherheitsgurt mich festgehalten hatte. Mein Herz schlug bis zum Hals. Jetzt auch noch einen Unfall zu bauen hätte mir gerade noch gefehlt.

Meine Gedanken kehrten in die Gegenwart und zu meiner Tochter zurück.

„Alles in Ordnung, mein Schatz?“, fragte ich nach hinten.

Bine nickte stumm. Sie hatte ihre Puppe fest an sich gepresst und war ganz blass im Gesicht.

Hinter mir hupte jemand.

„Ist ja gut.“ Zügig fuhr ich weiter und näherte mich wieder dem Wagen vor mir.

Der fuhr nur dreißig, obwohl hier Ortsgeschwindigkeit erlaubt war.

Ich hatte es wirklich eilig und vor mir schlich so ein Trödler vor sich hin!

Ich konnte in seinem Rückspiegel nur die Augen erkennen, die von der Instrumentenbeleuchtung erhellt wurden.

Vermutlich ein junger Mann.

Im Kennzeichen stand ganz rechts ein E. 

Und schon überkamen mich diese miesen Gefühle, da ich solche Vorurteile gegen Elektrofahrzeuge hegte. Der hätte ja jeden Moment explodieren können!

Und wahrscheinlich fuhr er deshalb so langsam, weil er sonst keine drei Meter weit gekommen wäre.

Das waren jedenfalls meine Gedanken dazu und alles, was ich mir dazu angeeignet hatte.

Aus welchem Grund auch immer, fuhr er viel zu langsam.

Die Schlange hinter uns wurde immer länger.

Jetzt fuhr ich absichtlich dicht auf und machte sogar Lichthupe.

Er schaut mir durch den Rückspiegel direkt in die Augen.

Ich zog eine Grimasse.

Keine Ahnung, ob er es gesehen hatte, jedenfalls zeigte er mir den Stinkefinger.

„Mama, was war das für ein Fingergruß?“, fragte Bine von hinten.

„Äh, er hat sich dafür bedankt, dass ich ihn darauf hingewiesen habe, dass er zu langsam fährt.“ Manchmal war ich richtig gut darin, Dinge zu erklären.

„Bist du noch sehr sauer auf mich, weil ich immer so lange für alles brauche?“

Ich musste schlucken. Ich hatte keine Ahnung, wie sie auf einmal darauf kam. Vielleicht, weil ich drängelte und so angespannt war. Ich rutschte in meinem Sitz hin und her: „Nein, Schätzchen. Wir kommen noch pünktlich an.“

Plötzlich begann es zu schütten. Ehe ich den Scheibenwischer einschalten konnte, sah ich alles nur noch verschwommen durch die Scheiben.

Erst auf höchster Stufe hatte ich wieder freie Sicht.

Da vorne kam das 30er-Schild für den Kindergarten.

Jetzt gab der Typ Gas! Obwohl da 30 stand!

Das ging ja schon mal gar nicht.

Ich war völlig in Rage. Vergas alles um mich herum.

Obwohl ich weiter vorschriftsmäßig fuhr, holte ich ihn aber dennoch wieder ein.

Ich kochte vor Wut und trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad.

Der war ja eine richtig Verkehrsgefährdung.

„Mama!“, sagte Bine.

„Nicht jetzt. Dem werde ich erst mal eine Lektion erteilen!“

Keine Ahnung, wo diese Gedanken auf einmal herkamen. Aber es ging nicht anders.

Meine Hände verkrampften sich im Lenkrad und mein Fuß zitterte auf dem Gaspedal.

Jetzt wurde die Straße zweispurig. Ich gab Gas und fuhr direkt neben ihn an eine rote Ampel.

„Mamaaa, wir sind zu weit …“

Ich ließ meine Tochter nicht ausreden. Ich hörte sie einfach nicht mehr. Blendete einfach alles aus. Ich musste erst diese Sache erledigen und dann würde ich mich wieder um Bine kümmern.

Der Regen hatte wieder nachgelassen.

Meine Zähne mahlten aufeinander und ich riskierte einen Blick nach rechts.

Der Typ sah mich völlig verständnislos an und zuckte mit den Achseln.

Ich trat die Kupplung durch und gab im Leerlauf Gas. Das war richtig laut und dröhnte in den Ohren.

Das Elektroauto surrte wahrscheinlich nur ein bisschen, aber das hörte ich eh nicht.

„Mama, ich habe Angst!“, wimmerte Bine von hinten. „Ich will auch nie wieder bummeln!“

„Wir sind gleich da! Versprochen!“

Die Ampel schaltete auf Gelb, ich ließ die Kupplung los und mein Wagen machte einen Satz nach vorne. Mit durchdrehenden, quietschenden Reifen jagte ich los.

Ich rammte den zweiten und dann gleich den dritten Gang ins Getriebe.

Das ausgeschaltete Autoradio spielte plötzlich für ein paar Sekunden Highway to hell von AC/DC.

Der E-Wagen hielt gleich auf. Dank der Automatik musste er nur beschleunigen. Der Fahrer sah mich grimmig an.

Jetzt fuhren wir beide schon siebzig innerorts und wurden immer schneller.

Es war die Umgehungsstraße zur Autobahn und die zog sich noch ein Stück hin.

Ich hängte ihn ab und schlug voller Freude auf die Lenkung. Ha!

Er fiel zurück, hupte wie ein Verrückter und blendete ständig sein Licht auf. 

Ich streckte ihm die Zunge raus.

„Mama, Vorsicht!“, schrie Bine von hinten.

Ich blickte nach vorn und entdeckte, warum der Typ sich hatte zurückfallen lassen: Ein Müllwagen war in die Hauptstraße eingebogen und benötigte dafür beide Spuren.

Ich trat in die Eisen, aber es war zu spät. 

Mein Wagen schlitterte auf der nassen Fahrbahn einfach weiter, wir gerieten unter den Laster und wurden von ihm regelrecht  überrollt.

Ich bekam keine Luft mehr.

Der Scheibenwischer hörte auf zu arbeiten, ich konnte draußen nichts mehr erkennen und mir wurde schwarz vor Augen.

Bine, war mein letzter Gedanke …

 

Ich schlug die Augen wieder auf und lag im Krankenhaus. Steriles Weiß um mich herum. An lebenserhaltende Geräte angeschlossen. Ständig piepte etwas.

Ich sammelte mich und atmete tief ein. Meine Umwelt veränderte sich. Das Piepen wurde zum Klickern des Blinkers und ich saß wieder im Auto.

Vor mir wurden die verschwommenen Rücklichter des E-Autos wieder kleiner.

Der Scheibenwischer sorgte für Klarheit.

Ein Hupen hinter mir riss mich in die Realität zurück.

Wir standen vor dem Kindergarten mitten auf der Straße. Ich zitterte am ganzen Körper und ich schwitzte trotz der Kälte.

Meine Körperwärme ließ die Scheiben beschlagen und das Gebläse setzte ein.

Langsam fuhr ich an den Bordstein.

Alles kam mir so irreal vor. Langsam beruhigte sich mein Atem wieder und der Puls ging wieder runter.

Bine hatte sich schon abgeschnallt und öffnete die Autotür.

Still stieg ich aus und lieferte Bine am Eingang ab. Da es immer noch regnete, fiel es gar nicht auf, dass meine Stirn immer noch vom Schweiß glänzte.

Bine drehte sich noch einmal zu mir um, umarmte mich und sagte: „Ich liebe dich!“

Mit Tränen in den Augen winkte ich ihr hinterher.

Dann setzte ich meine Fahrt zur Arbeit fort.

Ich war gnadenlos zu spät.

Vor mir war wieder die Ampel, halb im Nebel und Regen verborgen.

Ein Deja-Vu überkam mich und ich überlegte, ob ich nicht woanders lang fahren sollte.

War es nur ein Traum gewesen? Oder hatten sich meine Gedanken so weitergesponnen, dass ich es in meiner Phantasie so realistisch erlebt hatte?

Es schüttelte mich dabei, was hätte sein können.

Plötzlich hörte ich Sirenen hinter mir. Ich fuhr auf den Mittelstreifen und ein Rettungswagen raste vorbei.

Vor mir war ein Unfall passiert. 

Die Polizei hatte den rechten Streifen gesperrt. Im Schritttempo passierte ich die Unfallstelle.

Das Elektroauto von vorhin hatte sich unter dem Müllwagen verkeilt.

Dem Fahrer schien nicht so viel zugestoßen zu sein, denn er saß mit einer Decke um die Schultern in einem Polizeifahrzeug.

Ich ließ meine Seitenscheibe herunter und schnappte die Worte: „Fehlfunktion“ und „unkontrollierte Beschleunigung“ auf.

Ich sah zum Himmel auf, der zu klaren begann und schickte ein Dankeschön nach oben.

Weil es mir und Bine gut ging, dem Fahrer des anderen Wagen nicht viel passiert war und dass ich einen vernünftigen Grund hatte, warum ich heute zu spät zu Arbeit kam …

 

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