von Brigitte Noelle

 

„Heute ist Montag, der 9. Mai 1994, 10 Uhr. Guten Tag im Nachrichtenstudio…“

Karin Berger, Rechtsanwältin für Wirtschaftsrecht, lehnte sich in ihrem Bürosessel zurück und nahm einen Schluck Kaffee, während sie der Stimme des Nachrichtensprechers lauschte.

Als sie überlegte, sich eine Zigarette zu gönnen, steckte Evelyn, die Sekretärin ihrer Kanzlei, aufgeregt den Kopf zur Türe herein. „Mira ist verschwunden“, platzte sie heraus. „Was heißt ‚verschwunden‘?“ – „Sie kam nicht zur Arbeit, und am Telefon meldet sie sich auch nicht.“

Mira studierte Jus und arbeitete halbtags als Praktikantin in Karins Kanzlei. Im Verlauf des Vormittags riefen die Kolleginnen sämtliche Krankenhäuser und Polizeistationen der Umgebung an, doch vergebens: Keine Spur von Mira. Schließlich fuhr Evelyn zu Miras Wohnung. Dort lief ihr eine Nachbarin über den Weg, die berichtete, dass sie die Gesuchte tags zuvor mit einem Rucksack bepackt das Haus verlassen gesehen habe.

So war die Belegschaft der Kanzlei zwar beruhigt aber ratlos, denn was solle das wieder bedeuten?

Diese Ratlosigkeit wich Ende der Woche lautstarker Verärgerung, als eine Ansichtskarte aus Udine eintraf, auf der Mira mitteilte, dass sie kurzfristig die Gelegenheit ergriffen hatte, mit Freunden eine Italienreise zu unternehmen. „Wenn ich wieder zurück bin, komme ich gleich wieder zu Euch“, versprach sie abschließend.

Einzig Karin blieb scheinbar ruhig, verteilte die anstehenden Arbeiten unter ihren Mitarbeiterinnen und blieb selbst bis nach Büroschluss an ihrem Schreibtisch. Gegen Abend schaute ihre Freundin, Studienkollegin und Partnerin in der Kanzlei, Irma Fischer, bei ihr vorbei.

„Ich habe das von Mira gehört, das ist ja wirklich ein starkes Stück! Ich nehme an, das wird eine fristlose Kündigung?“ Sie war bass erstaunt, als Karin verneinte. „Das verstehe ich nicht! Magst du mir das näher erklären?“ – „Gerne, aber es wird eine Weile brauchen. Hast Du heute Zeit? Wir könnten nach der Arbeit ins Café gegenüber gehen.“

Zwei Stunden später saßen sie in einer Nische des gemütlichen kleinen Lokals und Karin begann zu erzählen: „Ich wurde Ende der 1940er Jahre geboren. Wie Du selbst weißt, hatte man damals nicht viel, musste sich nach der Decke strecken und sich mit Wenigem bescheiden. Meine Eltern hatten ein kleines Schreibwarengeschäft, und oft spielte ich dort im Hinterzimmer und musste ruhig sein, während meine Mutter die Kunden bediente.

Als meine Schwester auf die Welt kam, war ich acht Jahre alt und meine Eltern aus den gröbsten wirtschaftlichen Nöten heraus. Sie war das Nesthäkchen und wurde nach Strich und Faden verwöhnt. Wenn sie durch die Wohnung tobte und mich bei meinen Hausaufgaben störte, wenn sie mit Spielzeug überhäuft wurde, von dem ich nur träumen konnte, oder wenn sie es lustig fand, meine Bücher in die volle Badewanne zu werfen, hieß es stets: ‚Du bist ja die Ältere und Vernünftigere, du musst mit deiner kleinen Schwester Nachsicht haben.‘ So war ich also vernünftig und diszipliniert.“

„Was ist eigentlich aus deiner Schwester geworden?“, unterbrach Irma. – „Zur Zeit lässt sie sich von unseren Eltern eine Ausbildung als Aura-Soma-Beraterin finanzieren. Sie meint, sie braucht das, um eine Arbeit zu finden.“ – „Und wird ihr das dabei wirklich helfen?“ – „Vermutlich genau so viel wie der Sprachaufenthalt in Paris und die Clownausbildung, nämlich gar nicht.“

Nun zündete sich Karin doch eine Zigarette an und fuhr fort:

„Nach der Schule entschloss ich mich, Jus zu studieren. Bis auf ein vages Bedürfnis, zur Gerechtigkeit auf der Welt beitragen zu wollen, interessierte mich das Fach damals zwar nicht allzu sehr, aber die Studiendauer war überschaubar und erlaubte mir, nebenbei zu arbeiten.

Einmal gegen Ende des Sommersemesters war ich auf eine Gartenparty eingeladen, die der Bruder eines Studienkollegen veranstaltete. Es war eine – ich kann es nicht anders sagen –  magische Nacht: Alles stimmte, ich trieb durch das Geschehen wie auf einer langen, ruhigen Welle. So lernte ich eine junge Frau namens Rita kennen und wir verstanden uns auf Anhieb. Wir fanden abseits der anderen Gäste eine Hollywoodschaukel, saßen, lauschten den gedämpften Stimmen der anderen Gäste, genossen die warme Sommernacht und plauderten den ganzen Abend hindurch. Kurz bevor alle aufbrachen, fragte sie mich: ‚Übermorgen werde ich mit einem befreundeten Paar eine Reise in einem umgebauten VW-Bulli unternehmen, durch Italien, bis hinunter nach Sizilien. Eigentlich sollte ja mein Freund mitkommen, doch der hat sich vor drei Tagen das Bein gebrochen und liegt im Krankenhaus. Magst du nicht statt ihm mitfahren?‘ Ich verkrampfte mich am ganzen Körper, in meinem Kopf schwirrten abgerissene Gedanken wie tollwütige Fliegen durcheinander. Was sollte ich sagen? Ich wog innerhalb kurzer Zeit die Argumente für und wider gegeneinander ab und erklärte ihr schließlich, dass ich in einer Woche eine Prüfung und gleich danach einen Vorstellungstermin für einen Job hätte – unmöglich, mitzukommen. Bedauernd nahm sie es zu Kenntnis und drang nicht weiter in mich. Doch dabei spürte ich die Bitternis des Bedauerns in meiner Kehle.

Denn natürlich hätte es auch andere Prüfungstermine gegeben, und Studentenjobs gab es damals zur Genüge. Doch ich war einfach nicht gewohnt, etwas einfach so zu tun, ohne triftige Gründe.

Also blieb ich, bestand die Prüfung und bekam die Stelle.“

Karin und Irma bestellten noch ein Glas Wein. „Wie ging es weiter?“ erkundigte sich Irma.

„Nun, ich war vernünftig und fleißig und bin damit nicht schlecht gefahren: Ich habe einen wunderbaren Mann, einen Beruf, der mich ausfüllt, und materiell geht es uns auch gut.

Doch weiter: Das Semester war zu Ende und damit fiel all die Anspannung und Aufregung von mir ab.

Ich ging früh am Abend todmüde schlafen und hatte einen beängstigenden Traum: Ich stand auf einer Straße in einer vertrauten, aber doch unbekannten Gegend und trug eine Kiste mit frischen Fischen, von denen manche noch lebendig waren und zappelten. Ein Haus weiter parkte ein Auto, und ich wusste, dass das Glück meines Lebens und das Heil meiner Seele davon abhing, die Fische dort abliefern zu können. Ich versuchte hinzulaufen, doch meine Beine gehorchten mir nicht, sie bewegten sich so langsam, als ob sie in einer zähflüssigen Masse stecken würden. Hilflos musste ich zusehen, wie das Auto startete und fort fuhr.

Dann wachte ich auf, das Gesicht nass von meinen Tränen, und ich weinte noch immer. ‚Und ich bin nicht dabei – das ist nichts für mich – all das ohne mich…‘ Solche Gedanken wälzten sich durch meinen Kopf, während vor meinem inneren Auge Bilder auftauchten, Bilder, wie Rita und ihre Freunde in weiten, flatternden Gewändern durch Pinienwälder tanzten, sich am Strand träge von der Sonne bescheinen ließen, in schattigen Gärten die reifen, leuchtenden Orangen von Baum pflückten und schließlich am Bord einer Fähre durch das blaue, weite Meer gen Sizilien fuhren. ‚All das ohne mich…‘ Die Bitternis des lebenslangen Verzichtenmüssens würgte mich in der Dunkelheit meines kleinen Zimmmers, einer kleinen, vereinzelten Zelle in der großen Wabe dieser grauen Stadt.

Schließlich schlief ich vor Erschöpfung ein. Das war der erste dieser Träume, doch seitdem suchen mich ähnliche immer wieder heim. Manchmal ist es ein Zug, den ich erreichen muss, manchmal ein Bus, sogar Postkutschen oder Ruderboote sind schon vorgekommen, aber jedes Mal wache ich traurig und verzweifelt auf.“

Karin schüttelte sich, als ob sie die Erinnerungen dadurch loswerden könnte.

„Du weißt, dass ich Mira gerne mag, sie erinnert mich ein wenig an mich selbst, als ich jung war. Ich möchte nicht, dass es ihr so geht wie mir, dass auch ihr Leben durch ein ähnliches Versäumnis verbittert wird. Verstehst du mich nun?“

Irma nickte. „Ja. Danke, dass du mir all das erzählt hast. Kannst du es auch Deinen Mitarbeiterinnen erklären?“ – „Im Grunde ist Mira ja sehr beliebt bei ihren Kolleginnen, und so ganz ungeschoren werde ich die junge Dame nicht davonkommen lassen.“

Und so kam es, dass Mira Anfang Juli braun gebrannt und von innen her regelrecht strahlend wieder in der Kanzlei auftauchte. Nachdem sich der erste Wirbel mit Begrüßungen und Ausrufen, Fragen und Antworten gelegt hatte, nahm Karin die wieder Aufgetauchte beiseite. „Dir ist schon klar, dass du nicht so einfach für ein paar Wochen verschwinden kannst? Wir haben uns nicht nur Sorgen gemacht, sondern mussten zusätzlich zu unserer Arbeit auch noch deinen Kram erledigen!“ Schuldbewusst senkte Mira den Kopf und zupfte an den Ärmeln ihrer Bluse.

Karin fuhr fort: „Und so haben wir gemeinsam beschlosen, dass jetzt du drankommst, etwas mehr zu tun. In den nächsten Monaten möchten auch deine Kolleginnen Urlaub machen und du wirst die Vertretungen übernehmen. So hast du die Gelegenheit, deine Fehlzeiten einzuarbeiten und gleichzeitig etwas dazu zu lernen. Und wenn im Herbst die Lehrveranstaltungen beginnen, sind wieder alle zurück und du kommst wie bisher vormittags zu uns.“

Als Karin in dieser Nacht einschlief, träumte sie, dass sie den Bulli erreichte und mit Rita und ihren Freunden singend und lachend nach Süden fuhr.

 

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