von Ina Rieder

 

Mir ging diese Szene nicht mehr aus dem Kopf. Sie malträtierte mich unaufhörlich, raubte mir mein letztes Quäntchen Unschuld und ließ meinen Verstand schwinden. Innerhalb eines Momentes brach direkt vor meinen Augen meine heile Welt zusammen und ich konnte absolut nichts dagegen tun. Der quälende Schmerz der Enttäuschung breitete sich in meinem Inneren aus, legte sich auf meine Brust und nahm mir den Atem.

***

Alles war wie immer an jenem Tag. Mutter hatte das Frühstück vorbereitet und den Kaffee aufgesetzt. Kurze Zeit später ergoss er sich zischend in die Kanne. Sein karamellartiges Aroma schwängerte die Luft. Ich liebte diesen Duft, der mich dazu brachte, mich aus dem Bett zu schälen. Auf dem Weg in die Küche begegnete ich meiner fünfjährigen Schwester, die im Flur auf dem Eichenparkettboden saß. Sie versuchte eine enge Wollstrumpfhose über ihre nackten Beine zu schieben. Wütend zupfte und zerrte sie daran. Kläglich klingende Laute drangen aus ihrem süßen Schmollmund. Ihre Gesichtszüge amüsierten mich. Sie wirkten, als hätte sie in eine besonders saure Zitrone gebissen. Ich bückte mich zu Mavie und half ihr beim Anziehen.

Dann nahm ich sie Huckepack. Sie klammerte sich wie ein Äffchen an meinem Hals fest. In der Küche rutschte sie glucksend von meinem Rücken und setzte sich neben Vater an den Frühstückstisch. Er studierte die Zeitung und biss zwischendrin genüsslich von einem Butterbrot ab. Mutter huschte in der Küche hin und her.

„Ich habe heute eine schwierige OP“, hörte ich ihn sagen, „Zum Mittagessen schaffe ich es sicher nicht!“

Mutter hielt inne. Sie stützte sich mit den Händen auf der Kücheninsel ab und sah ihn, wie so häufig in letzter Zeit, mit gerunzelter Stirn an. Ihre zunehmend abweisende Art meinem Vater gegenüber ärgerte mich. Mein Blick schweifte über diesen außergewöhnlichen Mann mit den grazilen Händen, die dabei halfen, Leben zu retten. Ich bewunderte seinen Elan und die Sorgfalt, die er an den Tag legte. Ob ich jemals in seine Fußstapfen würde treten können? Sie kamen mir riesig vor. Zu groß, um darin Halt zu finden. Wenn ich gewusst hätte, dass es das letzte Mal war, dass ich ihn auf diese Weise ansah, dann hätte ich mich nicht so schnell von Mutters zerstückelnden Worten aus meinen Gedanken reißen lassen.

„Aber du wolltest doch heute Mavie vom Kindergarten abholen! Hast du vergessen, dass ich mit den Mädels wellnessen gehe?“

Mein Vater legte die Zeitung nieder. Er blickte schuldbewusst zu ihr auf.

„Oh je, daran habe ich tatsächlich nicht gedacht. Tut mir leid, Honey! Ich weiß nicht, wo mir momentan der Kopf steht!“

„Ich könnte mich doch um Mavie kümmern. Wir haben heute nur drei Stunden!“, sagte ich.

„Na, also. Problem gelöst“, erwiderte Vater mit einem souveränen Ton. Er erhob sich grinsend vom Esstisch und klopfte mir kameradschaftlich auf die Schulter. Ich zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Für eine Sekunde kam es mir so vor, als könnten meine Füße vielleicht doch eines Tages in seine Schuhe passen. In meinem Innersten breitete sich ein wärmendes, vertrauensbildendes Gefühl aus. Mutter hingegen presste ihre Lippen fest aufeinander. Ihre Augen verkleinerten sich und ihre Gesichtsfalten wirkten mit einem Mal größer.

„Es ist immer das Gleiche mit dir! Wenn ich deine Hilfe brauche, dann … Ach, lassen wir das!“, entgegnete sie.

„Aber Vater kann doch nichts dafür, wenn er heute eine komplizierte OP machen muss!“, ergriff ich Trottel für ihn auch noch Partei.

„Wenigstens einer hat Verständnis für meinen Beruf“, erwiderte Vater mit traurig klingender Stimme und erhob sich.

Er küsste beim Vorbeigehen meine Mutter flüchtig auf die Wange und steckte mir einen Hunni zu.

***

Als ich gegen zwölf Uhr den Kindergarten betrat, wartete meine Schwester schon fix  und fertig angezogen in der Garderobe. Sie sah mich und rannte glückselig auf mich zu. Ich ging in die Hocke, breitete meine Arme aus und wirbelte sie anschließend durch die Luft.

„Das ist mein Bruder! Der ist schon ganz groß. Er macht gerade seine Tura!“, sagte sie mit einem Stolz in der Stimme, der mich rührte, zu einem etwa gleichaltrigen Jungen.

„Matura heißt das, Mavie!“

„Was machen wir jetzt? Ich habe Hunger!“

„Dann sollten wir wohl etwas Essen gehen. Hab gehört, das hilft“, witzelte ich.

„Können wir zu ‚Burger Ben‘? Biiitte! Da gibt es jetzt zu jedem Kindermenü ein Monster“, bettelte sie.

„Aber der ist am anderen Ende der Stadt. In der Nähe des Krankenhauses, in dem Papa arbeitet“, überlegte ich laut.

„Fahren wir halt mit dem Bus dahin! Biiitte!“

Mavie sah mich mit ihren puppenhaften Augen an und ich konnte nicht anders und stimmte zu. Eine knappe Viertelstunde später stieg ich mit meiner Schwester an der Hand aus dem Bus. Bis zum Burgerladen waren es nur wenige Minuten.

„Darf ich eine Cola?“, fragte Mavie.

„Okay, aber verrate es nicht, ja?“

„Ehrenwort!“

Mavies Mundwinkel zogen sich in Richtung des strahlend blauen Himmels über uns. In etwa 20 Meter vor unserem Ziel blieb ich abrupt stehen. Mavie strauchelte leicht und sah mich fragend von der Seite an. Ich aber starrte mit geöffneter Kinnlade stur gerade aus. Mir war, als schwankte der Boden unter meinen Füßen. Übelkeit stieg in mir auf. Sie breitete sich vom Bauchraum aus und erstreckte sich bis in die letzten Winkel meines Körpers. Mavie zupfte am Ärmel meines Sweaters.

„Rob, was ist denn? Du bist total weiß im Gesicht! Warum gehen wir nicht weiter?“

Ich war unfähig mich zu rühren, sah dabei zu wie meine heile Welt direkt vor meinen Augen zusammenbrach.

So ein Wichser, dachte ich.

„Hey, Rob!“

Ich spürte den Druck von Mavies Fingern auf meinem Arm und zwang mich, meinen Blick von dem Trümmerhaufen meines vorherigen illusorischen Lebens abzuwenden. Ohne großartig darüber nachzudenken, drehte ich mich um 180 Grad und zog meine Schwester mit mir mit.

„Was soll das?“

„Wir gehen zum Italiener um die Ecke! Da ist es nicht so voll!“

„Aber, ich will Burger mit Pommes, Cola und das Monster! Du hast es mir versprochen, Rob!“

„Ich weiß, aber … Jetzt gibt es eben Pizza, Pasta!“, sagte ich in einem schrillen Ton, der mich selbst innerlich zusammenzucken ließ.

„Aber …“

„Nicht, aber! Ich habe gesagt, wir gehen zum Italiener und aus. Keine Diskussion!“

Mavie trottete neben mir her. Tränen kullerten aus ihren Augenwinkeln. Sie schniefte und begann plötzlich beängstigend zu schluchzen. Ich blieb stehen und beugte mich zu ihr herab.

„Sorry, kleine Schwester, aber manchmal ist man eben dazu gezwungen seine Pläne zu ändern, auch, wenn man das gar nicht möchte!“

„Aber warum, denn? Ich verstehe das nicht! Du hast es mir doch versprochen!“

„Ich weiß auch nicht …“, stammelte ich mit der Situation überfordert vor mich hin.

Ich fühlte mich wie ein Versager und suchte fieberhaft nach etwas, um sie zu besänftigen.

„Beim Italiener gibt es das beste Eis, das du jemals gegessen hast!“, fiel mir schließlich ein.

Mavies horchte auf und ihre Tränen versiegten langsam. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Ich atmete erleichtert auf.

***

Abends saß ich allein in meinem Zimmer und wartete auf ihn. Zu dem Rauschen in meinem Kopf gesellte sich jenes vertraute der stark frequentierten Straße vor unserem Haus. Das Dröhnen in meinem Schädel verstärkte sich minütlich, steigerte sich zu einem orkanähnlichen Unwetter. Kontinuierlich ploppte die Szene von heute Mittag vor mir auf, als würde jemand stetig die „Repeat Taste“ drücken. Noch immer versuchte ich mir einzureden, dass das, was ich gesehen hatte, nicht real gewesen sein konnte. Er würde so etwas doch niemals tun! Ich hörte die Eingangstüre gehen. Kurz darauf, die mir so vertrauten Schritte meines Vaters.

„Hi Honey, ich bin zu Hause!“, hallte es durch den Flur.

Als seine Stimme zu mir durchdrang, formten sich meine Hände zu Fäusten, mein Blut begann zu wallen, das Rauschen in meinem Kopf verstärkte sich. Ich riss die Türe meines Zimmers auf, stürmte nach draußen. Mein Vater blieb abrupt stehen. Ich baute mich vor ihm auf. Wir sahen uns an. Es war, als stünde die Zeit für eine Sekunde still. Wie in Zeitlupe sah ich dabei zu, wie meine Faust mit aller Kraft mitten in sein Gesicht krachte. Seine Brille flog durch die Luft und landete irgendwo auf dem Boden.

„Das ist für heute Mittag, du pädophiler Drecksack! Ich habe genau gesehen, wie du deine Zunge in ihren Mund gesteckt hast! Julia ist in meiner Klasse, du blöder Wichser“, schleuderte ich ihm entgegen.

Ich starrte auf das Blut auf meinen Fingern und spürte, wie der Druck in meinem Kopf langsam nachließ. Meine Mutter erschien im Türrahmen und überblickte verstört das Szenario. Ihr Blick schweifte abwechselnd zu Vater und mir.

„Du hast was Besseres verdient“, sagte ich an sie gerichtet, drehte mich um und überließ beide ihrem Schicksal.

Vaters Fußabdrücke interessierten mich seit jenem Vorfall nicht mehr. Von da an reichten mir meine eigenen.

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