Von Michael Voß
„Das wird nichts“, sagte Barney. „Selbst wenn du heile zwischen den Bäumen durchkommst, bist du unten viel zu schnell und kriegst die Kurve nicht.“
Normalerweise hätte Robert den Plan jetzt verworfen – Barneys Pokalsammlung daheim dokumentierte eindrucksvoll dessen Können als Motocross- und Enduro-Fahrer. Doch irgendwas in Robert rebellierte. Noch nie hatte er eine Geländefahrt gewonnen. Vor drei Jahren mal ein zweiter Platz, mit der Kawasaki. Ansonsten fand er sich meist im Mittelfeld wieder. Meistens. Hier, auf einer Moto-Cross-Strecke in der Nähe Sprockhövels, sogar nur im hinteren Drittel. Die anspruchsvolle Strecke erforderte nicht nur einen leistungsstarken und standfesten Motor, sondern auch ein Fahrwerk, was die Leistung an die hier extrem wechselnden Bodenverhältnisse brachte. Mit der hoffnungslos veralteten Kawa war der sprichwörtliche Blumentopf nicht zu holen, selbst, wenn Robert ein so exzellenter Fahrer wie Barney gewesen wäre. Doch mit der neuen Maico hatte sich das Blatt gewendet. Dieses Mal hatte er die Dauerprüfung (achtzehn Runden auf dem schwierigen Waldkurs) innerhalb des Zeitlimits von anderthalb Stunden absolviert, ohne eine einzige Strafminute zu kassieren. Damit gehörte er nun zum vorderen Viertel der knapp sechzig Fahrer, die die Plätze auf dem Treppchen unter sich ausmachen würden. Wer am Nachmittag die Sprintprüfung gewann – eine Runde auf dem abgesteckten Kurs – würde der Sieger sein.
Robert war achtundzwanzig und machte sich nichts vor: Einige der Favoriten waren schneller als er. Auch wenn er dieses Mal dank eines konkurrenzfähigen Motorrades deutlich weiter vorn war als sonst, würde es nicht reichen für einen Platz auf dem Treppchen.
Doch der Verstand war das Eine. Sobald er auf dem Bock saß, fühlte er sich wie achtzehn – stark und unbesiegbar. Er wusste einfach, dass er gewinnen würde. Irgendwie.
Nein, nicht irgendwie. Dieses Mal wusste er, wie er es machen würde. Die Strecke lag am Hang und führte nach dem Start zunächst in einer Art Serpentine und reichlich Geschlängel bergab. Danach ging es ein flaches Stück weiter. Dieser flache Abschnitt lag gut hundert Meter Luftlinie vom Startpunkt entfernt ein Stück hangabwärts. Der Veranstalter hatte sich nicht die Mühe gemacht, den Verlauf der gut erkennbaren Piste überall mit dem rot-weiß gestreiften Flatterband eng einzugrenzen, so dass man ganz legal gewaltig abkürzen konnte. Man brauchte nur nach dem Start geradeaus und dann den Abhang runter zu fahren. Allerdings hatte niemand diese Möglichkeit genutzt, denn die vom Laub verdeckten Äste und Baumstümpfe am Hang brächten jedes Zweirad zu Fall. Die Abkürzung war regelkonform, aber unüberwindbar.
Es sei denn …
Wenn er den Abhang hinunterspringen würde, anstatt zu fahren. Dann würde er über das Unterholz hinwegfliegen, auf der normalen Piste landen und rund zwanzig Sekunden sparen. Mehr als genug, um auch den Allerschnellsten locker stehen zu lassen.
Es gab nur zwei Probleme: Zuerst musste er zwischen zwei engstehenden Bäumen hindurch – im Sprung. Als Zweites kam unten, wenige Meter nach dem geschätzten Landepunkt, eine enge Kurve. Das gerade Stück vor der Kurve war verflixt kurz. Zu kurz, um die Fuhre so weit abzubremsen, um die Kurve zu kriegen. Jedenfalls meinte Barney das.
Nachdenklich stand Robert an der Hangkante und betrachtete das Gelände unter ihm.
Du streifst einen Baum und landest im Krankenhaus, sagte die Stimme seines erwachsenen Ichs in ihm. Oder du fliegst aus der Kurve und stürzt.
Dummes Zeug, sagte der Achtzehnjährige.
Damit war es entschieden.
Noch zwei Stunden bis zum Start. Robert spannte und schmierte die Kette, kontrollierte die Bremsen, die Speichenspannung und den Sitz der Schrauben von Fahrwerk und Motoraufhängung. Er entleerte den Tank soweit, dass es sicher für diese letzte Runde reichte – mehr Sprit wäre nur überflüssiges Gewicht gewesen.
Zwanzig Minuten vor dem Start. Mit Barneys Hilfe legte er seine Sachen an: Die schweren Stiefel, Ellbogenschützer, den Rückenprotektor, Brustpanzer, das leichte, luftdurchlässige Motocross-Shirt, Helm, Brille und zum Schluss die Handschuhe.
Er lockerte Arme und Beine, drehte den Kopf nach links und rechts, machte ein paar Kniebeugen und schwang die Arme. Alles war gut.
Noch fünf Minuten. Barney reichte ihm die Wasserflasche, noch ein kleiner Schluck.
Dann klappte Robert den Kickstarter aus und trat den Motor an. Eine blaue Wolke ausstoßend, erwachte der dreizwanziger Zweitakter grummelnd zum Leben. Robert schwang sich auf die Sitzbank und fuhr den Motor auf der dafür vorgesehenen Piste warm. Er schaltete die Gänge durch, machte ein paar Bremsungen und fuhr dann zum Start, wo Barney schon heftig winkte.
„Du bist gleich dran!“
Vor ihm bellte stakkatoartig eine Hundertfünfundzwanziger an der Startlinie, der Fahrer, offensichtlich nervös, drehte am Gas wie ein Ertrinkender. Dann fiel die Startflagge und die leichte Maschine stob los, um nach wenigen Metern aus dem Drehzahlhimmel zu fallen und mit Schrittgeschwindigkeit in die erste, verflixt enge Kurve bergab gelenkt zu werden.
Bleib cool, dachte Robert und rollte langsam nach vorn, sorgsam darauf achtend, NICHT in der Rille stehen zu bleiben, aus der alle anderen gestartet waren.
„Alles klar?“, fragte der Mann mit der Startflagge.
Robert nickte.
Der Starter ging auf seinen Platz, hob die Flagge auf halbe Höhe – noch fünfzehn Sekunden.
Robert zog die Kupplung, legte den Zweiten ein und gab Vollgas.
Der Motor drehte am Limit.
Die Flagge ging hoch – und fiel.
Zügig und gefühlvoll zugleich ließ Robert die Kupplung kommen, darauf achtend, dass die Maschine weder vorn hochkam noch hinten ausbrach. Die Lücke zwischen den beiden Bäumen im Blick, schaltete er hoch und jagte weiter. Dann war die Kante da und die Maico in der Luft. Robert zog die Kupplung, nahm das Gas weg und zog die Ellbogen an, als er zwischen den Bäumen hindurchflog.
ES HATTE GEKLAPPT!
Er verlagert sein Gewicht und drehte die Maschine im Flug ein wenig zur Seite, dass sie nicht schräg auf dem Weg aufkam und – landete.
Tief tauchte das Motorrad in die Federung, während Robert die Wucht der Landung mit Armen und Beinen auffing.
In den Fußrasten stehend, warf er sich so weit es ging nach hinten und bremste, was das Zeug hergab. Die Stollen gruben sich in den Untergrund, die Fuhre verzögerte deutlich. Die Kurve näherte sich schnell.
Viel zu schnell.
Sch …
In diesem Moment wusste er, dass Barney Recht gehabt hatte. Er hatte die Wahl zwischen weiterhin voll zu bremsen oder sich in die Kurve zu legen. Doch schon ohne zu bremsen würde viel Schräglage die Maschine auf dem weichen Waldboden über beide Räder nach außen wegrutschen lassen. Bremste er geradeaus fahrend weiter, würde er aus der Kurve herausfahren in die Brombeeren.
Er hatte keine Chance.
Oder …
Vielleicht hatte der Boden ja doch genug Grip. Robert ließ die Bremsen los und schmiss die Maico in die Kurve.
JA!, dachte er einen triumphierenden Augenblick lang.
Bis er merkte, dass die Reifen die Haftung verloren. Schwungvoll sprang er aus den Fußrasten, um nicht von der unter ihm wegrutschenden Maschine mitgerissen zu werden und fiel seitlich auf den Waldweg, wo er nach zwei, drei Rollen zum Liegen kam. Aufspringen, zum Bike laufen. Natürlich war der Motor jetzt aus. Es roch nach Sprit, ein paar Milliliter waren aus dem Vergaserüberlauf ins Freie gekommen. Hoffentlich nicht ins Kurbelgehäuse, dann würde es mühselig, den Motor wieder ans Laufen zu kriegen. Robert richtete die Maico auf. Er schuftete wie ein Berserker, um das Bike am Hang aus den Brombeeren zu zerren und es Richtung Piste umzudrehen. Als er es endlich geschafft hatte, war der Zeitvorteil mehr als dahin.
Hoffentlich.
Hoffentlich war jetzt der Motor nicht abgesoffen. Doch der Zweitakter sprang auf den ersten Tritt an.
Robert schwang sich auf die Sitzbank und gab Gas.
Jetzt galt es, auf keinen Fall Letzter zu werden.
„Platz sechsundvierzig anstatt eines gebrochenen Halses“, meinte Barney, nachdem der Rennleiter die Ergebnisse ausgehängt hatte. „Echt Alter, da bist du mit ´nem blauen Auge davongekommen!“
„Eher mit ´ner blauen Schulter“, meinte Robert und legte sich einen nassen Lappen auf den langsam anschwellenden rechten Oberarm und Halsansatz.
„Meinetwegen. Trotzdem verstehe ich das nicht. So wie du über den Kurs geballert bist, hättest du locker Fünfter oder Sechster sein können! Vielleicht hättest du es sogar bis auf Treppchen geschafft.“
„Hmpf.“
„Okay, den Ersten hättest du nicht gepackt, der Arno ist einfach schneller als du. Aber stell´ dir vor, du hättest den Dritten oder den sogar Zweiten gemacht. Aber nein, du musstest ja unbedingt den Danger-Freak machen!“
„Jaaahaa. Ist ´s jetzt gut?“
„Ne, noch nich!“, schnaubte Barney. „Warum hast du das gemacht, du Idiot?“
Robert zuckte die heile Schulter.
„Wen interessiert schon der zweite Platz?“
V3
Zeichen: 8788
Nachtrag / Ergänzung zum Verständnis:
Zur Verdeutlichung des Zeitgeistes die Überschrift einer Kawasaki Werbung im Dirt Rider Magazin (USA), Ende der achtziger Jahre:
„Who cares, who came in second? In Motocross it´s either simple: Winning is more fun than losing.“
Maico: Längst Konkurs gegangene deutsche Motorradmarke, die zu ihrer Blütezeit und noch lange danach in der Szene eine treue Fangemeinde und sowie einen gewissen Legendenstatus hatte.