Von Maria Monte

„Krah, krah, bist du Walpurga? Dann habe ich hier etwas für dich.“ Der Rabe ließ eine Schriftrolle fallen und flog schon wieder davon. Walpurga hatte sich erst vor kurzem mit Jakob in diesem Waldhäuschen, das von ehemaligen Forstleuten als Unterschlupf gebaut worden war, eingerichtet. Jakob war ihr treuer Freund seit Kindertagen, er hatte sie hierhergetragen, er bewachte und beschützte sie. Auch mit den Tieren des Waldes freundete sie sich schnell an, denn sie hatte ein gutes Herz. Wenn sie zum Markt ins nächste Dorf wollte, trug sie der Esel ein Stück des Weges. Dort bot sie ihre gesammelten Beeren und Pilze zum Tausch für einen Laib Brot an, doch die Dorfbewohner beäugten sie missgünstig. So war sie froh, bald wieder alleine im Wald zu sein. Und nun kam ein Vogel daher und brachte ihre kleine Welt durcheinander. „Einladung zur außerordentlichen Versammlung der germanischen Hexen“, entzifferte sie mühselig.

Warum bekam sie diese Botschaft, sie konnte sich nicht erinnern, je mit Hexen in Berührung gekommen zu sein.

Drei Tage später erschien der Rabe erneut. „Übrigens, ich bin Krax, der Hexenbote. Krah, krah, ich bringe eine Nachricht von deiner Schwester.“ Diesmal war es nur ein Zettel, der dem Mädchen vor die Füße fiel. „Mach dir keine Sorgen, ich hole dich auf meinem Tandembesen ab, Baba Jaga.“

 Sollte etwa ihre große Schwester eine Hexe sein?

Vor Aufregung konnte sie die nächsten zwei Nächte kaum schlafen. Dann rückte der Abend zur Walpurgisnacht heran und tatsächlich kam ihre Schwester mit wehendem Haar auf einem sehr speziellen Besen angeflogen. „Steig schnell auf, wir wollen nicht die letzten sein.“ Und ab ging es Richtung Harz. Der Wald unter ihnen lag schon in tiefem Dunkel, die Geräusche der Nacht klangen verhalten leise an ihre Ohren, nur der Mond schaute ihnen mit offenem Mund zu.

Walpurga hatte den Flug wie in Trance erlebt, nun wurde sie durch die vielen verschiedenen Stimmen um sich herum blitzschnell hellwach. Ihre Schwester grüßte nach links und rechts und hatte auch mal ein freundliches Wort mehr parat. Die vielen bunten Röcke, die verschiedenen Dialekte, dazu der Besenparkplatz, all das beeindruckte Walpurga mächtig. Auf dem Blocksberg gab es kaum noch ein freies Plätzchen. Dann erscholl eine laute, krächzende Stimme. „Ich grüße euch alle, die ihr heute hierhergekommen seid, um mit uns die Walpurgisnacht zu feiern und unseren Ahnen zu huldigen. Unter uns sind drei neue Mädchen, die wir in unsere Rituale und Zaubereien einführen wollen. Nehmt sie freundlich in eurer Mitte auf. Im Anschluss an unser Treffen findet eine Lehrwoche zur Geschichte unserer Zunft und dem Zaubern generell statt. Baba Jaga hat sich bereiterklärt, die Kurse abzuhalten. Wir wollen ihr danken.“ Es erscholl ein kreischendes „Ho, ho, hex, hex“ aus allen Mündern. „Nun lasst uns tanzen und übermütig die Röcke schwingen, die Nacht ist schon recht fortgeschritten.“

Das ließ sich auch Walpurga nicht zweimal sagen. Baba Jaga reichte ihr einen kräftigen Trunk, der ein Feuer in den Gedärmen und Adern entfachte. „Lass uns deinen Geburtstag und unser Wiedersehen feiern, liebe Schwester.“ Bald drehte sich Walpurga übermütig zum krächzenden Gesang der Rabenvögel, hüpfte zu den Trommelwirbeln der uralten Hexen, quitschte und jolte im Chor der ausgelassenen Schar. Irgendwann legte sie sich zu den anderen, spürte tiefe Verbundenheit und schlief sanft ein.

„Aufwachen, du willst doch viel lernen,“ hörte sie am nächsten Morgen ihre Schwester. Und wieder gab es einen Trunk, diesmal weckte er die Lebensgeister. In einer Höhle gleich am Berg konnten die drei Mädchen mit Baba Jaga ungestört ihrem Tun nachgehen. „Zuerst einmal müsst ihr von eurer Herkunft wissen. Euch allen dreien erging es ähnlich. Eure Eltern sprachen in eurem Beisein nicht von ihren vererbten Zauberkräften und der Hexenfamilientradition. Ihr seid jetzt in einem Alter, in dem sich gute wie schlechte Erbanlagen herausbilden. Ihr werdet ähnliche Eigenschaften entwickeln, wie sie in euren Vorfahren steckten. Da ihr ja leider recht frühzeitig eure Eltern verloren habt, könnt ihr nicht wissen, welche Kräfte an euch weitergegeben wurden. Deshalb habe ich von allen unseren Vorfahren Merkmale und Eigenschaften zusammengetragen.“ Baba Jaga erzählte den Mädchen von beeindruckenden Persönlichkeiten im Hexengeschlecht. Am Beispiel der verschiedenen Charaktere der Hexen von Oz erklärte sie die Entwicklung zu guten, hilfreichen Hexen und die Möglichkeit, dass die vererbten Gene in unzufriedenen Geschöpfen auch grausame, böswillige Hexen hervorbringen können. „Merkt euch die Namen der bekanntesten Hexen, die da sind: Dahlia, Sidenia von Borke, Helena, Katharina und auch eine Walpurga. Meist waren das besonders kluge Frauen, die als Hebammen und Heilerinnen in ihrem Tun verkannt wurden. Ihnen sagte man okkulte Kräfte nach. Frühreife Mädchen, die zu wissbegierig und fleißig sind, werden meist in ihren Dörfern verunglimpft, geschändet und manchmal sogar als Buhlin des Teufels verbrannt. Hütet euch also vor den missgünstigen Menschen. Bedenkt zudem, dass bald eure Weiblichkeit erwacht. In euch wird ein Lodern und Begehren entfacht, ihr könnt vor Unruhe eure Sinne verlieren. Wenn der Mond hell hernieder scheint und ihr die Dämonen in euch spürt, solltet ihr euch einen Trunk aus Baldrian und Mohn bereiten. Ihr müsst wissen, dass in jedem von uns wenigstens vier Prozent der Gene der Neandertaler stecken. Wem es nicht gelingt, mit sich im Einklang zu leben, den treiben die dualen Kräfte Richtung Kannibalismus. Dann endet ihr als verschriehene alte Hexe in den Erzählungen der Menschen.“ Walpurga lernte schnell und saugte jedes Wort ihrer Schwester in sich auf. Nun erfuhr sie auch von ihren gemeinsamen Eltern und deren Ahnen. Tatsächlich gab es eine Muhme, die Kinder und junge Männer, die auf der Walz waren, in ihr Häuschen lockte. Baba Jaga holte das alte Buch, das sie bei ihrer Flucht retten konnte, hervor. Darin waren neben der Ahnentafel und einigen Zauberformeln auch die Rezepturen der Knochensuppe wie auch die Art und Weise des Garens von Menschenfleisch vermerkt. Walpurga bekam Gänsehaut, als sie den Schilderungen ihrer Schwester lauschte.

„Warum bist du soweit Richtung Osten weggegangen und hast mich in den germanischen Wäldern zurückgelassen?“ Diese Frage quälte sie schon die ganze Zeit. „Als eines Nachts unser Elternhaus niederbrannte, lagen wir beide im Stall bei Jakob. Er war schon am Abend sehr unruhig, so dass ich vorsichtshalber den Hexenbesen der Mutter sowie einige Habseligkeiten zusammen mit dem Ahnenbuch und einem Stück Brot in einem Einschlagtuch neben mir lagerte. Als das Feuer auf den Stall übergriff, half mir unser Esel, dich vom brennenden Hof zu bringen. Er stürmte in Angst und Schrecken versetzt mit dir davon. Ich griff nach dem Besen, der derart präpariert war, mich möglichst weit wegzubringen. Und so landete ich unterhalb des Ural und richtete mich dort ein. Durch den Raben Krax erfuhr ich, dass du lebst. Hab keine Angst, wir haben recht viele gute Gene in uns, ich denke, wir brauchen das alte Buch nicht mehr. Komm, ich zeige dir, wie man den Tandembesen reitet. Das bisschen Spaß sollten wir uns gönnen.“