Von Ursula Kollasch

Vor einigen Jahren lebte im Schwarzwald der Holzindustrielle John Lumbermann mit seiner dritten Gemahlin Lyssa. Sie schwelgten in Geld und Luxus.
Da der erfolgreiche Geschäftsmann ohne Pause weiteren Reichtum scheffelte und seine junge Gattin den Großteil ihrer Zeit in Schönheitssalons und Designerläden verbrachte, ließen sie die Kinder John Junior und Greta zu oft allein und vernachlässigten deren Erziehung.
Und dies führte dazu, dass Lumbermanns Sprösslinge aus erster Ehe zu unausstehlichen Jugendlichen heranwuchsen.
Eines Tages, nachdem die beiden wieder die Privatschule geschwänzt hatten und erst gegen Abend mit Alkoholfahnen und vom Kiffen geröteten Augen heimkehrten, brüllte der Vater: „Genug ist genug! Das Ende der Fahnenstange ist erreicht!“, was bei den Pubertierenden Kicheranfälle auslöste.
„Ihr seid so undankbar. Haben wir euch nicht immer alles gegeben?“, lamentierte die Stiefmutter, die die beiden nie gemocht hatte. Als Antwort prusteten sie und zeigten ihr die Mittelfinger, woraufhin Lyssas makelloser Teint ein wütendes Rosa annahm.
„Darling, ich ertrage das nicht mehr! Schick sie endlich ins Internat!“
„Nein, für die gebe ich keinen Cent mehr aus.“ Mit kaltem Blick fixierte Lumbermann seinen Nachwuchs. „Ihr verlasst sofort unser Haus und dürft erst zurückkehren, wenn ihr geläutert seid.“ Er wandte sich an seine beiden Diener. „Schafft sie raus.“
Bevor Johnny und Greta begriffen, wie ihnen geschah, wurden sie von den Männern auf die Straße verfrachtet und das Tor schloss sich.
„Voll lost! Ticken die noch sauber, uns einfach rauszuschmeißen?“ Johnnys angenehmer Cannabisrausch war mit einem Schlag verflogen.
„Der Alte wird sich schon wieder einkriegen“, murmelte Greta, die sich an die Mauer lehnte und eine Kippe drehte. „Schließlich sind wir seine Kinder.“
„Shit ey, Sister – wo sollen wir denn jetzt hin?“ Panik schwang in Johnnys stimmbruchgeplagter Stimme.
„Laber nicht wie ein Freak.“ Sie steckte sich die Zigarette an und inhalierte tief.
Ihr Bruder hämmerte ans Tor und rief nach dem Vater.
„Lass das. Ich muss nachdenken.“
Johnny schrie weiter und hielt den Klingelknopf gedrückt, doch die Villa verharrte in endgültigem Schweigen.
Dann leuchteten Gretas Augen auf und sie knuffte den Bruder gegen die Schulter.
„Wir statten der alten Schrulle, die allein in dem Fresstempel im Wald lebt, mal wieder einen Besuch ab. Das lächerliche Schloss an der Hintertür haben wir jedes Mal geknackt. Damit wären zumindest das kulinarische und das Alk-Problem gelöst.“
„Geile Idee!“ Johnnys Laune besserte sich sofort. „Abflug!“
Gesagt, getan. Unterwegs brauste der coole Rumblesteel, dessen richtigen Namen niemand kannte, auf seinem Feuerstuhl an ihnen vorbei. Hinter ihm saß in hautenger Lederkleidung seine Freundin Scarlett, die in Johnnys Augen absolut hot war und nirgendwo ohne ihre rote Basecap auftauchte. Rumblesteel, der seinen schmächtigen Kleinwuchs mit der Harley kompensierte, ließ Gummi auf dem Asphalt und wendete den röhrenden Koloss.
Die vier stießen zur Begrüßung ihre Fäuste aneinander.
„Ey- alles klar?“, fragte Johnny.
„Stabil. Und bei euch?“ Scarlett ließ eine gigantische Kaugummiblase knallen.
„Wir sind rausgeflogen und brauchen einen Platz zum Pennen“, klärte Greta sie auf. „Aber vorher wollen wir die Pinte von der cringen Alten im Wald abchecken.“
Scarletts Lippen verzogen sich zu einem dreckigen Grinsen, wobei sie ihr Piercing zeigte.

„Voll creepy, das Muttchen. Bin dabei.“ Sie wandte Rumblesteel den Kopf zu. „Digga, haste auch Bock, die Alman-Omma wieder ’n bisschen aufzumischen?“
„I’m ready to rumble …“, krächzte ihr Freund 

So machten sie sich zu Fuß auf den Weg, hinein in den immer finsterer werdenden Wald und teilten sich unterwegs die Flasche Wodka, die Greta am Nachmittag im Supermarkt hatte mitgehen lassen. Die Stimmung war dementsprechend ausgelassen, als sie die Lichtung erreichten, auf der einsam der Gasthof Zum Knusperhaus stand.
Nur in einem der Fenster brannte Licht, das restliche Haus lag im Dunkel.

Das alte Mütterchen saß in seiner Küche am warmen Ofen und las in einem Buch, als es die lärmende Schar hörte.
Heute versuchten sie nicht einmal leise einzubrechen. Ihr schwante Böses.
Mehrmals hatten diese Jugendlichen ihr Gasthaus bereits heimgesucht und jedes Mal ein Feld der Verwüstung hinterlassen.
Schwer aufseufzend stützte sie sich auf ihren Stock und erhob sich mit pochendem Herzen vom Stuhl. Sie fürchtete sich ein wenig, aber Gott und dessen Worte würden ihr Kraft geben, die fehlgeleiteten Kinder endlich zur Vernunft zu bringen.
Schon vernahm sie aus dem Lager das Poltern von Konserven, das Zerbersten von Flaschen und Weckgläsern, Johlen und Gelächter.
Das Mütterchen schlurfte zur Vorratskammer und öffnete die Tür. Sie sah, wie die Jugendlichen Spirituosen auf die Fliesen schmissen, die schon von übelriechenden Pfützen bedeckt waren. „Hört auf! Warum tut ihr das?“, sprach sie, darum bemüht, ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen.
„Weil’s random Bock bringt, Omma!“
Greta grinste voller Häme und ließ einen der besten Rotweine aus der Hand gleiten. Die Flasche zerschellte vor den Stufen, die zur Tür hinaufführten, in der das Mütterchen stand, begleitet vom gehässigen Lachen ihrer Kumpane.
„Verlasst sofort mein Haus.“ Die Stimme der alten Frau klang nun wie Eis.
„Uuhh, jetzt ham‘ wir aber Schiss …“, raunte Scarlett verächtlich und stieß Rumblesteel in die Seite. „Willst du uns etwa mit deiner Krücke vermöbeln?“
„Geht! Das ist meine letzte Warnung“, mahnte die Alte.
Wieder erschallte Hohngelächter. Das von Johnny erinnerte an einen kastrierten Hahn.
Da griff sie in ihre Schürze, riss mehrere Streichhölzer auf einmal an und ließ diese zu Boden fallen. Ehe die Jugendlichen sich versahen, standen die hochprozentigen Pfützen in Flammen, denn das Mütterchen hatte nach der letzten Heimsuchung die vordersten Flaschen in den Regalen mit Benzin gefüllt.
Und die Gören begannen zu schreien, sie schienen über den brennenden Boden zu tanzen. Rumblesteels Hose fing Feuer, das er mit aufgerissenen Augen auszuklopfen versuchte. Die Alte wiederum sprach mit Grabesstimme: „Wascht euch, reinigt euch! Lasst ab von eurem üblen Treiben!“
Mit einer Hand langte sie nach einem Feuerlöscher und sprühte Schaum auf die Flammen. Mit der anderen ergriff sie einen Schlauch und richtete ihn auf die Jugendlichen, die kreischend die Arme vor die Gesichter hoben, als der eiskalte Wasserstrahl sie durchnässte.
Endlich lösten sie sich prustend aus ihrer Schockstarre, Johnny riss die Hintertür auf und sie stolperten in die Dunkelheit hinaus.
Die Alte baute sich im Türrahmen auf, und während sie einen roten Knopf neben dem Lichtschalter drückte, rief sie ihnen mit unheilschwangerer Stimme nach: „Ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe.“ 

Auf ihrem Grundstück öffnete sich zeitgleich ein Zwinger und sie vernahm, wie die beiden Schäferhunde, die sie sich zugelegt hatte, mit wütendem Gebell die Verfolgung der missratenen Brut aufnahmen.
Die Tiere würden aber nicht beißen, an der Grundstücksgrenze innehalten und zu ihr zurückkehren, wie der Hundetrainer es ihnen beigebracht hatte.
Sie bückte sich und hob die rote Kappe auf, die eines der Mädchen verloren hatte.
Nachdem sie ihre Wachhunde vor der Tür getätschelt und mit Leckerlis belohnt hatte, beseitigte sie das Chaos im Lager und wischte.
Zum Schluss nagelte sie die rotleuchtende Trophäe neben die Wildgeweihe an die Wohnzimmerwand und setzte sich zurück an den Ofen.
„Hallelujah, preiset den Herrn“, flüsterte sie mit einem zufriedenen Lächeln und griff nach ihrem Buch.

Auf TikTok und anderen Social-Media-Plattformen grassierten bald darauf die wildesten Gerüchte über eine Kinder fressende Hexe im Wald.
Der Gasthof Crunchy Hut – alternativ hieß er auch Mörderische Pinte, Folterkeller des Grauens oder The Witch Hole – wurde zur Todesfalle erklärt.
Es hieß, eine durchgeknallte Oma locke mit Fastfood, Süßem und Freigetränken Kinder und Jugendliche in ihr Horrorhaus, danach würden diese nie wieder gesehen.
Insider wussten zu berichten, dass die Alte die Gefangenen bei lebendigem Leib grille, Teile von ihnen verspeise und die Reste an ihre blutrünstigen Höllenhunde oder abgerichteten Wölfe verfüttere.
Der Redaktionsleiter der größten deutschen Boulevardzeitung war stark interessiert, das Thema aufzugreifen und Journalisten mit einem Kamerateam zum Schauplatz zu entsenden. Da jedoch nicht nur die Namen des Lokals, sondern auch die Ortsangaben stark voneinander abwichen, verwarf man diese Schlagzeile wieder und wandte sich anderen Skandalen zu.
Das Mütterchen bekam von alldem nichts mit, sie besaß weder ein Smartphone noch einen Internetzugang. Sie stellte allein fest, dass sich gar keine Gäste mehr in ihr abgelegenes Restaurant verirrten. Doch war ihr das in Anbetracht ihres fortgeschrittenen Alters nur recht.
So hängte sie ein „Geschlossen“-Schild an die Tür und genoss den Ruhestand mit ihren Hunden. Die Jugendlichen aber sah sie nie wieder auf ihrem Grundstück und wenn sie sich nicht gebessert haben, dann irren Johnny und Greta noch immer draußen umher. 


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