Von Marti Stegemann

 

Gelbe Augen gierten durch die Nacht. Schon länger fanden sie kein Ziel, doch diese eiskalte Nacht brachte neue Beute. Klein waren sie. Zwei an der Zahl. Viele Schichten gegen die Kälte täuschten Schutz vor, doch bis jetzt war den beiden in ihrem Leben noch nie wirklich kalt gewesen.

 

Balder und seine Ehefrau Drifa arbeiteten sich durch Schnee und Gestrüpp, während der Wind laut durch die Blätter der Bäume rauschte. Lange würden sie es nicht mehr aushalten, weit nicht mehr kommen. Im Wald soll es ein Haus geben. Doch weder ihr Ehemann noch Drifa selbst wussten, wo genau es war.

Der Wind schob sie vorwärts, tiefer in den Wald hinein und immer stärker. Er peitschte um ihre Ohren, zog an ihrer Kleidung und drückte sie voran. Ein besonders heftiger Windstoß warf sie plötzlich zu Boden und mühsam musste Drifa sich wieder aus dem Schnee kämpfen. Sie hob den Kopf und sah ihren Balder vor sich im Schnee. Auch er kämpfte sich hoch, nur um von einem weiteren Windstoß wieder auf den Rücken geworfen zu werden. Drifa grub sich vor, ihr Ehemann fuchtelte wild mit den Armen, um sich aus den weißen Fesseln zu befreien, die ihn umschlossen. Doch sie kam nicht weit.

Ein weißer Schleier fuhr auf Balder hinab und warf Drifa zurück. Schlagartig hörte der Sturm um sie herum auf und die Schneeflocken hingen reglos in der Luft. Sie hob ihren Kopf, doch anstatt ihres Ehemannes sah sie wallendes rotes Haar.

Dort, wo Balder liegen sollte, flogen Fetzen seiner Kleidung und eine Gestalt wütete in einer Wolke aus Schnee. Panisch stürzte Drifa zurück, bis ihr ein Baum den Fluchtweg versperrte. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und schaute sich wild um. Ruckartig drehte sich die Figur um und furchtbare gelbe Augen stachen mitten in Drifas Herz. Vor Schmerz heulte sie auf und hielt sich die Brust, während die Gestalt langsam näherkam. Fast schon fragend winkelte sie ihren Kopf an und zeigte ihr ausgemergeltes Gesicht. Sie war alt, sehr alt, doch schien sich dieser Umstand nicht auf ihre Kraft auszuwirken. Mit einem Streich ihres Armes zerbarst der Baum über Drifa und etliche spitze Äste fielen um sie herum in den Schnee.

Eine unmenschliche Stimme zischte sie an. „Der Wald. Was wollt ihr hier?“

Angst legte sich wie eine eiserne Hand um Drifas Kehle und erstickte jeglichen Ton im Keim. Es gab kein Entkommen. Sie wusste, dass dies ihre letzten Momente waren. Und doch klammerte sie sich mit allem, was sie hatte, am Leben fest.

„WAS SUCHT IHR IN MEINEM WALD!“, donnerte die alte Frau. Ihr rotes Haar erzitterte mit jedem Ton.

Drifa schaffte es noch immer nicht, der Frau etwas entgegenzusetzen. Verzweifelt schluchzte sie, wohlwissend, was passieren würde. In ihrer Panik versteckte sie sich zwischen den Ästen, die sich wie Pfähle in den Schnee um sie herum gebohrt haben.

 

Ohne weitere Worte schritt die Gestalt auf Drifa zu und fixierte mit einem gelben Blick ihr nächstes Opfer. Es lag da vor ihr im Schnee. Spitze Äste säumten den Boden und verzweifelt hielt sie einen davon fest, auf den Angreifer gerichtet.

Das eiskalte Herz der rothaarigen Frau machte einen Satz. Das erste Mal seit sehr, sehr, sehr langer Zeit keimte etwas Hoffnung in ihr auf. War es möglich, dass es einen Ausweg gab?

Unvermittelt sprang sie auf den Eindringling zu, doch anstatt dass Klauen Haut trafen, bohrte sich spitzes Holz in einen Brustkorb.

 

Drifa spürte den Aufprall, bevor ihr Gehirn registrierte, was passiert war. Ihre Hände hielten einen Ast und daran hing eine rothaarige, alte Frau. Sanfter Schnee fiel in ihr Gesicht und für einen Moment war Stille. Kälte zog in ihre Knochen und ließ die Tränen auf ihrem Gesicht gefrieren. Doch ihre Angst war weg. Wo vorher eine eiskalte Hand ihr Herz umklammerte, war nun nichts mehr. Keine Angst, keine Liebe, keine Hoffnung. Nur ihre Hände, die einen Ast umklammerten. Daran eine Frau. Doch ihre Haare waren anders. Keine feuerrote Mähne mehr, sondern brüchiges Haar, so weiß wie der Schnee um sie herum.

Respektlos drückte sie die Alte von sich und dumpf prallte sie gegen einen Baum. Erst jetzt sah sie eine Erhebung im Schnee, die von roten Flecken übersät war. Drifa hatte das Gefühl, dieser Anblick sollte sie kümmern, doch das tat es nicht. Gleichgültig stand sie auf und starrte die beiden Körper im Schnee an.

Nichts. Nicht der Hauch einer Regung zeigte sich in ihrem Gesicht. Sie schaute an sich herab und sah ihr zerfetztes Kleid. Ihre Hände waren völlig aufgerissen und sie spürte den stechenden Schmerz unzähliger Schnitte in ihrem Gesicht. Doch all das war wunderte sie nicht. Einzig ihre Haare warfen Fragen auf. Wo vorher blondes Gold erstrahlte, zeigten sich nun Flammen. Feuerrote Haare zierten nun ihren Kopf. Und mit der Farbe kam der Sturm.

 

 

 

Gelbe Augen gierten durch die Nacht. Es war schon lange her, dass Drifa menschliche Gestalten wahrgenommen hatte. Vor Kurzem war es jemand, der ihre Bäume verletzte und sie stahl. Doch überschritt er die Schwelle, bevor sie die Möglichkeit auf Rache hatte.

Wie beim letzten Mal versetzte ihre Anwesenheit Drifa in unendliche Rage. Dieses Mal waren es zwei. Kleine Wesen, die durch ihren Wald irrten. Doch dieses Mal würden sie den Weg in ihre Hütte finden.