Von Björn D. Neumann

Es war einmal … im Jahre 1806, als mein Bruder Wilhelm anderweitig beschäftigt war und ich mich allein auf den Weg Richtung Kellerwald machte. Wir hatten von der Legende einer Hexe gehört, die dort seit ewigen Jahren ihr Unwesen treiben sollte. Es wurde erzählt, dass sie Kinder in ihren Bann lockte und – ich wage es kaum zu erwähnen – bei lebendigem Leib briet und verspeiste. Das war Stoff von den Geschichten, die mich und meinen Bruder interessierten und die wir sammelten. Und was hatten wir nicht schon für Sagen und Märchen sammeln können. Von Königstöchtern, die verflucht waren, von bösen Stiefmüttern, Zwergen und anderen fabelhaften Gestalten. 

Die Kutsche brachte mich bis Marburg. Ab hier musste ich mir selbst weiterhelfen. Ich mietete ein Pferd, band mein leichtes Reisegepäck auf ihm fest und machte mich auf den Weg in die entlegenen, verschneiten Gebiete meiner hessischen Heimat in Richtung des Kellerwaldes. Es dämmerte schon, als ich, dem Herrgott sei es gedankt, eine Ortschaft namens Schönstein erreichte. Es war ein bescheidenes Dorf, und der einzige Gasthof am Ort bot zwar nur eine dünne Suppe als bescheidenes Nachtmahl, aber ein Dach über dem Kopf für die Nacht war es mir die paar Kreuzer wert. Zumal ein heftiger Schneesturm losbrach und uns ein Donnergrollen direkt über unseren Köpfen zusammenzucken ließ.

Mit zumindest einem warmen Bauch suchte ich bei einem Becher Bier das Gespräch mit den Einheimischen, aber sobald das Thema auf die Hexe aus dem Kellerwald kam, verfinsterten sich die Mienen und die Münder verstummten. Als ich resigniert in meinen Becher starrte, hörte ich aus der Ecke neben dem Kamin ein Kichern. Dort saß ein alter Mann, der mir bislang nicht aufgefallen war. Aus einem faltigen Gesicht lächelten mich ein fast zahnloser Mund und wache, funkelnde Augen an. Er zog an seiner Pfeife, blies eine Rauchwolke an die Zimmerdecke und fragte mich: „Soso, die Geschichte von der Hexe willst du hören?“ Dabei brach er in ein Lachen aus, das in einen Hustenanfall überging.  

„Ja, wisst Ihr etwas über diese Legende?“, fragte ich, als er wieder zu Luft kam.

„Vielleicht fällt mir ja etwas bei einem Becher Bier ein?“

„Herr Wirt! Bringt noch zwei Becher!“, rief ich durch den Schankraum. „Nun erzählt, was wisst Ihr?“ Er berichtete mir nur die bekannten Geschichten und meine Enttäuschung wuchs von Minute zu Minute. „Ich glaube, für heute habe ich genug. Ich werde mich zur Ruhe legen“, unterbrach ich ihn mit unverhohlenem Ärger. 

„Mmh, vielleicht kenne ich jemanden, der mehr zu berichten hat.“ Der Alte, inzwischen hatte ich erfahren, dass er Joseph hieß, kratzte sich am Kinn. „Das kostet aber, Freund.“

Schlagartig war mein Interesse wieder geweckt. Ich ließ zwei Kreuzer aus meinem Geldbeutel auf den Tisch fallen, die Joseph blitzartig einstrich.

„Im Wald, ein paar Meilen östlich von hier, lebt eine verrückte Alte in einer Hütte“, flüsterte Joseph mit gesenkter Stimme. Dabei wies er mit seinem Zeigefinger mit einer Kreisbewegung an seine Stirn, um seine Aussage zu unterstreichen. „Total verrückt“, kicherte er noch ein paar Mal.

Mit diesem letzten Strohhalm der Hoffnung machte ich mich auf in meine Kammer. Es war eine unruhige Nacht. Draußen tobte weiterhin der Sturm und mich plagten im Halbschlaf fürchterliche Albträume. Immer wieder sah ich Josephs grinsendes, faltiges Gesicht.

So machte ich mich schon früh am nächsten Morgen auf den Weg Richtung Osten. Das Fortkommen gelang durch den tiefen Schnee nur mühsam und als der Wald dichter und undurchdringlicher wurde, band ich das Pferd an einen Baumstumpf und stapfte zu Fuß tiefer in den Wald. Immer wieder verfing sich mein Mantel im Geäst oder ich stolperte in eine Schneewehe. 

Nach ein paar Stunden spürte ich weder Füße noch Finger. Ich gab auf. Zu meinem Unglück, wehte mir eine Böe den Hut von meinem Kopf und jedes Mal, wenn ich meinte, ihn zu fassen zu kriegen, wurde er wieder ein Stück weiter in den Wald geweht. Endlich erwischte ich den Ausreißer. Als ich aufblickte, konnte ich es nicht fassen. Vor mir lag eine Lichtung und auf der eine windschiefe Hütte stand. Die Fensterläden hingen teilweise herunter, im Dach taten sich Löcher auf und die Holzbretter, aus denen es bestand, waren so lückenhaft wie Josephs Gebiss. Wäre nicht aus dem baufälligen Schornstein Rauch aufgestiegen, hätte ich niemals damit gerechnet, dass dort jemand leben würde. Vorsichtig näherte ich mich der Hütte und lauschte. „Wer schleicht da um mein Häuschen?“, krächzte es aus dem Inneren. Ich erschrak. Stotternd brachte ich hervor: „Ich bin Jacob. Man sagte mir, dass Ihr die Geschichte der Hexe kennt.“ Stille. Ein Kichern. Dann öffnete sich knarzend die Tür. „Tritt ein“, forderte mich die Stimme auf.

„Die Geschichte der Hexe willst Du also hören?“

„Wenn Ihr etwas wisst. Ich will sie aufschreiben und für die Nachwelt erhalten.“

„Willst du auch die Wahrheit hören oder nur die Lüge, die verbreitet wird?“

***

Anne war früh aufgestanden. Das wenige Brot für die Dorfbewohner musste fertig werden. Seit Ende der Religionskriege litt die Bevölkerung Hunger. Auch in Schönstein. Die kleine Siedlung hatte immerhin eine Bäckerei, obwohl sie hauptsächlich eine Holzfälleransiedlung war. Diese befand sich neben einem kleinen Bauernhof am Waldesrand. Seit Annes Mann im Hessenkrieg gefallen war, betrieb sie als Witwe das Geschäft allein. Und da sie auch noch jung war, war sie ebenso begehrt. Auch der Holzfäller Georg Kroll hatte ein Auge auf sie geworfen und mehrfach bedrängt. Doch Anne wies jegliche seiner Avancen ab. Georg war ein Widerling und obendrein hatte er zwei erwachsene Kinder und eine schwangere zweite Ehefrau. 

Der Duft des frischgebackenen Brotes waberte verführerisch durch das Dorf. Anne holte gerade die letzten Laibe aus dem Backofen, als Grete, die Tochter Georgs, unvermittelt hinter ihr stand.

„Grete, was kann ich für dich tun? Ein Brot?“

„Erstmal kannst du die Finger von meinem Vater lassen“, fauchte Grete Anne an.

„Was denkst du dir? Ich will nichts von deinem Vater. Und neben meinem Rock, ist er hinter jedem Weibsbild her, dass nicht schnell genug auf den Bäumen ist.“ Gretes Ohrfeige traf sie unerwartet und die Brote landeten im Dreck. 

So, als wäre es keine Absicht, stieg Grete mit den Holzpantinen auf die Laibe und zertrat sie. „Huch, das wollte ich nicht“, und fügte mit einem schadenfrohen Lachen hinzu: „Gib Acht. Mein Bruder Hans ist nicht so nachsichtig wie ich.“ Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ mit erhobenem Kopf die Backstube.

Mit Tränen in den Augen sah Anne ihr kopfschüttelnd hinterher.

Der Schrei in der Nacht war markerschütternd. Anne war auf einen Schlag hellwach, als es an der Tür klopfte. Es war Grete: „Anne! Schnell! Du musst uns helfen. Du kennst dich doch mit Kräutern aus. Unsere Stiefmutter liegt in den Wehen, aber das Kind will nicht kommen.“

In Windeseile packte Anne ein paar Dinge in ihre Tasche und folgte Grete. Die Schreie waren in ein leises Wimmern übergegangen. Kalter Schweiß stand auf der Stirn der Gebärenden. Das weiße Laken blutdurchtränkt. Anne wusste nach wenigen Minuten, dass jede Hilfe zu spät war. So kam es, dass Elisabeth Krolls unsterbliche Seele in dieser Nacht zum Himmel fuhr. Auch das kleine Mädchen war bereits tot, als es den Mutterleib verließ.

„Mörderin! Hexe! Das ist alles deine Schuld“, schrie Grete. 

„Du bist von Sinnen! Ich habe nur geholfen.“

„Für dich allein wolltest du unseren Vater. Um an sein Geld zu kommen. Gib‘ es zu!“ Jetzt trat auch ihr Bruder Hans hinzu. „Verlasse unser Haus, du Metze!“

Erschöpft und verstört kehrte Anne nach Hause zurück. Da es nur noch kurze Zeit bis zum Sonnenaufgang und sie ohnehin zu aufgewühlt zum Schlafen war, entschied sie, mit ihrem Tagwerk zu beginnen. So hörte sie glücklicherweise das leise Raunen und sah die Fackeln, die sich in der Dunkelheit dem Haus näherten. Ohne Hab und Gut schlich sie aus dem Haus und floh in den nahegelegenen Wald. Sie lief um ihr Leben. Immer wieder zurückblickend sah sie, wie die Fackeln ihr eine Zeit lang folgten, aber schließlich verklangen die Stimmen und die Lichter wurden immer kleiner. Als der Morgen dämmerte, erreichte sie völlig erschöpft eine Lichtung im Wald. Auf ihr stand ein kleines verfallenes Häuschen, in dem sie Schutz suchte. Sie schlief bis zum nächsten Abend, als sie von Geräuschen geweckt wurde. Grete und Hans standen wie aus dem Nichts vor ihr.

„Sieh mal, Hans, wen wir hier haben? Wenn das nicht die Hexe Anne ist.“

„Ich bin keine Hexe! Ich habe deine Mutter nicht getötet.“

„Stiefmutter, bitte. Und ja, ich weiß. Das war ich ja auch selber. Aber dummerweise muss jemand die Schuld übernehmen. Und das bist du! Hans, pack sie.“ Zwei Pranken schlossen sich um ihre Oberarme. Grete stand ihr Gesicht an Gesicht gegenüber. Das sadistische Grinsen verhieß Anne nichts Gutes und in diesem Moment presste Grete ihr die brennende Fackel ins Gesicht. „Brenn‘, du Hexe!“ 

Der Schmerz betäubte ihre Sinne und verlieh ihr übermenschliche Kräfte. Sie wusste später nicht wie, aber sie konnte sich aus dem Griff befreien, bekam irgendwie einen alten Spaten in die Finger und zertrümmerte damit die Schädel der Geschwister. Dann umfing sie eine gnädige Ohnmacht.

Als sie wieder aufwachte, war der Schmerz unerträglich. Sie stolperte zu einem kleinen Teich hinter dem Haus und kühlte ihre Wunden. Als sich im Wasser ihr Gesicht spiegelte, schrie sie auf. Eine Hälfte war komplett entstellt, das Auge zur Unkenntlichkeit verbrannt. Anne ließ sich nie wieder in Schönstein sehen und Legenden um ihr Verschwinden und das der Geschwister ranken sich bis heute.

Dies ist nun fast 200 Jahre her. 

***

Es war, als erwachte ich aus einem Traum. Und als ich mich umblickte, saß ich auf einem Baumstumpf mitten im Wald. Keine Spur von der Alten oder der Hütte. 

Zurück in Hanau erzählte ich Wilhelm die ganze Geschichte. Natürlich glaubte er mir nicht. Letztendlich beharrte er darauf, die ursprüngliche Sage ins Buch aufzunehmen. Ich habe Anne verraten. Aber vielleicht magst du die Wahrheit in die Welt tragen?

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