Von Ina Rieder

Jetzt bin ich immer noch in diesem kleinen Häuschen mit schiefem Dach und verrußtem Schornstein. Ein Ort, der voller Erinnerungen steckt. Die aus Holz verkleideten Wände scheinen lebendig zu sein. Es knarzt und knackt. Ab und zu gesellen sich neue Risse dazu. Alles ist so, wie es immer schon war. Selbst Vaters Jagdhut hängt noch an der Garderobe, Mutters Mantel gleich daneben. Beide sind seit Jahrzehnten tot. Erleichtert war ich, als ich sie endlich los war. Dennoch habe ich es bis heute nicht geschafft, mich von ihren Sachen zu trennen. 

Manchmal steigen Bilder vor mir auf. Tagträume, die mich in ihren Bann ziehen. Nebelschwaden, blauer Rauch, der in der Luft hängt. Es riecht nach abgestandenen Bier und altem Fett. Mutter, wie sie teilnahmslos am Tisch sitzt. Mit ihren Gedanken weit fort, irgendwo an einem fremden Ort. Vaters große, raue Hände, die kräftig zupackten, und regelmäßig auf meine nackte Haut klatschten. Ich war immer an allem schuld. Ob es die Schere war, die fehlte oder der Radio, der kaputt ging. Niemand hat mich je erlöst! 

Von draußen dringen die Geräusche des Waldes an mein Ohr. Ein Rascheln im Laub, das Rauschen eines schnell fließenden Baches, ein Knirschen im Unterholz. Die Kinder müssten bald hier sein. Ich spitze meine Ohren, lausche, warte jedoch vergebens. 

Ach ja, seit geraumer Zeit kommen sie nicht mehr. 

Es sticht in meiner Brust, wird eng um meinen Hals, Tränen brechen sich Bahn. 

Alles begann an einem Sonntagvormittag im Mai. Ich backte Kekse. Der Duft von Butter und Zucker zog durch das Küchenfenster nach draußen. Auf einmal hörte ich helle Stimmen und Schritte, die näher kamen. 

„Mm, da kommt der wunderbare Geruch her!“

Ich öffnete das Fenster und guckte nach draußen. Zwei Kinder bogen plötzlich um die Ecke und blieben wie angewurzelt vor mir stehen. 

„Keine Angst! Kommt nur näher. Habt ihr euch im Wald verirrt?“

„Nein!“, erwiderte ein Junge um die acht.

„Wir haben am Bach gespielt und waren neugierig, woher der Keksduft kommt!“, ergänzte ein Mädchen, im etwa gleichen Alter.

„Na, wenn ihr schon mal hier seid, könnt ihr auch gerne welche probieren!“

Von da an kamen sie jeden Sonntag. Ich fieberte die ganze Woche auf diesen Tag hin, probierte jedes Mal neue Rezepte aus. Ihre Gesellschaft tröstete mich über meine Einsamkeit und meine Vergangenheit hinweg. Ich liebte ihre fröhlichen Gesichter, die kleinen Hände, die beherzt zugriffen, lauschte mit Vergnügen ihren Geschichten aus der Schule. Ich hatte das Gefühl, als würde es das Schicksal endlich einmal gut mit mir meinen, mich dafür entschädigen, dass ich selbst nie Kinder bekommen hatte. 

Eines Sonntags blieb der Besuch der Kinder aus. Ich sah auf die Uhr, zählte die Minuten. Zehn nach drei. Wie ein nervöser Hund, ging ich vor der Hütte auf und ab, spähte in den Wald, ging Richtung Bach. Nichts. 

Vermutlich ist nur etwas dazwischengekommen, überlegte ich. 

Ein paar Tage später klopfte es bedrohlich an der Türe. Ich sprang aus dem Bett, schlüpfte in den Morgenmantel und öffnete kurze Zeit später. 

„Frau Marie Hansemann?! Kriminalpolizei!“

Einer der beiden Beamten hielt mir seine Dienstmarke entgegen. 

„Sie sind festgenommen wegen Verdacht auf zweifachen Mord!“

Der Boden unter meinen Füßen begann zu schwanken, als befände ich mich auf einem Boot. 

„Was? Warum? Wieso?“

„Wir stellen hier die Fragen! Ziehen Sie sich etwas an! Sie müssen mitkommen!“

Ich fühlte mich wie auf Watte, wankte zurück in mein Schlafzimmer, alles schien in Zeitlupe und vollkommen surreal abzulaufen.

Mit grimmiger Visage knallte mir einer der Beamten auf dem Revier ein Foto auf den Tisch. Der Anblick der Kinderleichen brannte sich, wie zu heißes Fett in eine Pfanne, in mein Gehirn. Rundherum begann alles zu verschwimmen. Meine Wangen fühlten sich heiß und klebrig an. Es tropfte aus der Nase. 

Der andere reichte mir ein Taschentuch und schob ein Glas Wasser über den Tisch. Nachdem ich meine Tränen weggewischt hatte, zwang ich mich, das Foto noch einmal anzusehen. 

Plötzlich spürte ich ein Zwicken in der Brust. Ich sprang vom Sessel auf, taumelte rückwärts, mein Zeigefinger schnellte nach vor! 

„Massimo!“, schrie ich eindringlich. 

Und dann erzählte ich ihnen von meinem Cousin. Wie er mich gerne in die Brust zwickte, wie es seine „Schinder-Lust“ entfachte. Nachmittags sperrte er mich gerne in den Schuppen, trennte Köpfe von meinen Puppen, zog meine Katze am Schwanz oder klemmte des Nachbars Gans in die Federklappe des Fahrrads…

„Wieso glauben Sie, dass er es gewesen ist?“

Ich zog meinen Pullover nach oben. Die Narben der Schnitte, die wie zwei Kreuze aussahen, links und rechts unterhalb der Brust, waren immer noch gut zu sehen. Die Blicke der Beamten wanderten von mir auf das Foto und wieder zurück. 

Seit ich entlassen wurde, kommt mir das Häuschen noch kleiner, schäbiger und älter als je zuvor vor. Ich bekomme kaum noch Luft. All diese Erinnerungen machen mich irre. 

Es ist Zeit, denke ich.

Ein letztes Mal kehre ich an die Stelle im Wald zurück, an der ich an jenem Sonntagnachmittag die Kinder von all dem Elend dieser Welt erlöst habe. 

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