Von Christiane Ulmer-Leahey

Nur wenn, wie heute, unbedingt erforderlich, verließ die Hexe die in der Wintersonne glitzernde Lichtung, auf der ihr Häuschen stand, und ging den verschlungenen Weg, der aus dem Wald führte. Sie trat aus dem Tannendickicht heraus. Selbst an sonnigen Tagen hüllten sich die Fichten am Rande des Waldes in Nebel, der nur sehr selten von Menschen durchdrungen wurde.

 

Dieser Umstand bedeutete Sicherheit – für sie und die Gäste, die sie ab und zu bei sich beherbergte, weil sie sich im Wald verlaufen hatten. Im Grunde mochte die Hexe Geselligkeit, solange die Menschen ihr freundlich gesinnt waren.

 

Sie erreichte die Stadt. ‚Die Leute beachten mich kaum, ich bin nicht die Einzige in langen dunklen Röcken, die ihr Haar mit einem Schal bedeckt.‘ stellte die Hexe erleichtert fest. Bei einem ihrer letzten Besuche trugen die Mädchen und Frauen sehr kurze Röcke und starrten die scheinbar aus der Fremde Kommende neugierig und manchmal sogar böse an.

 

Die Hexe schritt durch die, für ihr Empfinden zu grell beleuchtete, Hauptstraße der Stadt. Mit vielen Gegenständen, die in den vielen Läden zum Verkauf angeboten wurden, wusste sie nichts anzufangen. Sie war auf der Suche nach einer Apotheke, dem einzigen Ort, an dem es die Medizin, die sie jetzt dringend benötigte, gab.

 

Ihre Aufmerksamkeit wurde auf ein kleines Geschäft mit einem großen Schaufenster gelenkt. Es war vollgepackt mit Kinderspielsachen. Neben Puppen und Teddybären gab es auch ein Regal mit Bilderbüchern. Die Hexe erinnerte sich an zwei Kinder, die sie vor langer Zeit beherbergt hatte. Diesen Kindern hätten die Sachen im Schaufenster bestimmt gefallen. Sie kamen zu zweit, ein Mädchen und ihr kleiner Bruder. Total ermüdet, verschüchtert und verschreckt trauten sie sich erst nicht ins Haus. Schließlich gewann die Aussicht auf ein warmes Essen und ein Bett für die Nacht die Oberhand. Ursprünglich sollten die Kinder am nächsten Tag weiterziehen. Ihre Gastgeberin hatte kein Interesse daran, Aufmerksamkeit zu erregen und sich den Zorn besorgter Eltern zuzuziehen.

 

Aber die Kinder baten verzweifelt darum, bleiben zu dürfen. Sie lebten in wirtschaftlich sehr schwierigen Verhältnissen und viel Liebe gab es in der Familie augenscheinlich auch nicht. Das wenige Essen, das vorhanden war, teilten die Erwachsenen unter sich. Zu jener Zeit gab es keine staatliche Wohlfahrt. Die Kinder waren in ernsthafter Gefahr durch Hunger und Vernachlässigung zugrunde zu gehen. So blieben der kleine Hans und seine große Schwester Grete bei der Hexe.

 

Sie hatte nie die Möglichkeit gehabt, eigene Kinder großzuziehen und kümmerte sich nun mit Begeisterung, Liebe und Geduld um ihre beiden Gäste.

Draußen im Land ging es den Menschen schlecht. Es gab eine große Teuerung, die besonders den Armen zu schaffen machte. Viele konnten sich weder Essen noch warme Kleidung oder eine Wohnung leisten. Dann kam der Krieg dazu und mit ihm immer höhere Steuern.

 

Eines Tages fand ein Soldat den Weg zu dem Haus, in dem die Hexe mit den beiden Geschwistern lebte. Der junge Mann hatte zahlreiche Verletzungen und befand sich äußerlich und seelisch in einem schlimmen Zustand.

 

„Seine fürchterlichen Erfahrungen im Krieg haben seine Gedanken und Gefühle krank gemacht, deshalb benimmt er sich manchmal merkwürdig“, erklärte die Hexe den Kindern, wenn sie sich vor dem Fremden fürchteten. Seine zerlumpte Uniform ersetzte die Hexe durch andere Kleidung. Seinen spontanen und unvorhersehbaren Wutausbrüchen begegnete sie mit Verständnis und bat Hans und Grete um Nachsicht. Mit der Zeit ging es dem jungen Mann besser. Er wurde freundlicher und erledigte im Häuschen schon seit langem angefallenen Reparaturarbeiten. Am Dach fehlten Schindeln, die ersetzt werden mussten und Hans hatte aus Versehen eine Fensterscheibe zerbrochen. „Glas gibt es zwar keins, aber wir bringen dafür schöne Fensterläden an“, tröstete er den Jungen.

 

Trotz der Heilkünste der Hexe gab es eine Wunde, die nicht verheilen wollte und von Zeit zu Zeit aufs Neue aufbrach. Fühlte sich der junge Mann dann wieder besser, verließ er den Wald, um zu erkunden, wie die Weltgeschäfte standen und besorgte, wenn sich die Gelegenheit ergab, Dinge, die im Hexenhaus benötigt wurden, aber dort von den Bewohnern nicht selbst hergestellt werden konnten.

 

Es kam der Tag, an dem der frühere Soldat die Nachricht brachte, dass der Krieg zu Ende war. „Die Leute haben wieder genug zu essen.“ Er schaute in die erwartungsvollen Gesichter von Hans und Grete. „Ja, auch in eurem Dorf war ich und habe Erkundigungen eingezogen.“ Was aus der Mutter der Kinder geworden war, wusste der Soldat nicht. „Euer Vater lebt noch. Er erzählt überall, wie sehr er seine Kinder vermisst und bereut, sich nicht mehr um sie gekümmert zu haben. Mir gegenüber beteuerte er alles dafür geben zu wollen, um seine früheren Versäumnisse wieder gutzumachen“, berichtete der Soldat.

 

Es folgten lange Diskussionen in der gemütlichen Stube des kleinen Häuschens. Hans wollte zurück zum Vater und ihm eine zweite Chance geben. Grete war skeptischer, hatte jedoch auch Sehnsucht nach der weiten Welt. Die Hexe verstand all dies, gleichzeitig fürchtete sie die Reaktion der Menschen, sollte ihr Aufenthaltsort und die Tatsache, dass die zwei Kinder so lange bei ihr gelebt hatten, bekannt werden.

 

„Mach‘ dir keine Sorgen, da lass‘ ich mir schon etwas einfallen“, beschwichtigte Hans.

Schließlich kamen sie überein, den Menschen draußen zu erzählen, sie hätten bei einer alten Dame gelebt. Die sei nun gestorben und deshalb seien Hans und Grete in ihr Dorf zurückgekehrt.

 

Der Abschied fiel schwer. Wenigstens war die Hexe nicht ganz alleine. Der junge Soldat blieb bei ihr in der Sicherheit ihres Häuschens. Die beiden führten ein friedliches und oft auch fröhliches Leben, während draußen in der Welt viele Jahre vergingen.

 

Eines Abends hatte der Soldat es sich wieder einmal auf der Bank beim Feuer bequem gemacht, sein Kopf lag auf dem Schoß der Hexe. Er richtete sich auf, um einen Schluck aus dem mit Holunderwein gefüllten Becher zu trinken. „Im Hexenhaus steht die Zeit still“, bemerkte er.

Die Hexe lächelte: „Die Zeit vergeht auch hier, nur halt ein wenig anders als draußen bei den Menschen.“

 

Jenseits des Waldes brach der Krieg wieder aus. Dann wurde es wieder eine Weile friedlich, bevor es zu erneuten Kämpfen kam. „Als ob die Menschen unfähig wären zu lernen“, meinte die Hexe betrübt, als sie von einer ihrer immer seltener werdenden Exkursionen zurückkam, wo sie Schlimmes gesehen und schlechte Erfahrungen gemacht hatte.

 

Da klopfte es an der Tür. Zuerst leise, sodass die Hexe und ihr Mitbewohner dachten, es wäre der Wind. Das Klopfen wurde lauter.

„Wer mag das sein?“, sprach die Hexe. Draußen stand ein junger Mensch. Er schien völlig entkräftet und halb erfroren und, obwohl dieser Mann hier vor ihr keine Uniform trug, erinnerte er die Hexe an ihren Soldaten, der schon so viele Jahre bei ihr wohnte.

 

Ihr Gefühl trog sie nicht. „Meine Uniform tauschte ich bei der ersten Gelegenheit, die sich mir bot gegen andere Kleidung aus“, erklärte der Mann. Er erzählte, wie er mit so vielen seiner Kameraden einen aussichtslosen Kampf gekämpft und schließlich beschlossen hatte davonzulaufen, solange er noch sein Leben hatte. „Hätte man mich erwischt, wäre ich auf der Stelle getötet worden“, berichtete er kummervoll.

„Hier bist du erst einmal sicher“, sagte die Hexe und reichte ihrem neuen Gast zu Essen und zu Trinken. Nachdem der sich ein wenig gestärkt hatte, begann er sich den Ort, an dem er Zuflucht gefunden hatte, sowie seine Bewohner genauer anzusehen. Man kam ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass die beiden Soldaten aus den miteinander verfeindeten Nachbarländern stammten. Die Welten, aus denen sie stammten, lagen Jahrhunderte voneinander entfernt. Den Krieg gab es noch immer. Das Sterben war gleichgeblieben, nur die Waffen, mit denen es herbeigeführt wurde, hatten sich geändert.

 

Der Soldat, der am längsten bei der Hexe wohnte, schlussfolgerte: „Die Lage der Menschheit scheint also ausweglos“, und er regte sich so darüber auf, dass die alte Wunde, die nie richtig heilen wollte, wieder aufbrach.

 

„Es gibt eine Medizin, mit der ließe sich deine Verletzung wahrscheinlich schließen“, wusste der aus der neuen Zeit kommende Soldat. Er mochte den anderen und hatte Mitleid. Er begann zu erklären, was es mit diesem Wundermittel, das vor gerade einmal hundert Jahren erfunden wurde, alles erreicht werden konnte. Die Hexe hörte genau zu und beschloss, sich, sobald es hell wurde, auf den Weg zu machen, um die Arznei für den verletzten Soldaten zu holen.

 

Um den Kranken von seinen Schmerzen abzulenken und die Zeit bis zum Morgengrauen zu überbrücken, erzählten sie sich Geschichten, unter anderem auch aus der Zeit, als Hans und Grete zu Gast waren. „Die Grete war sehr geschickt, besonders beim Brotbacken“, erinnerte sich die Hexe, „und Hans hatte viel Fantasie. Er freundete sich mit meiner Ziege an, saß stundenlang bei ihr im Stall und erfand Geschichten.“

 

Die Hexe schwelgte weiter in Erinnerungen. Plötzlich fing ihr neuer Gast an zu grinsen. „Seinem Wort, euren Aufenthaltsort nicht zu verraten, mag Hans treu geblieben sein“, rief er aus. „Die Story, die er schließlich erfand und überall verbreitete, erzählt man sich bis heute.“

 

Sobald es Tag war, brach die Hexe auf. Sie wusste, es wäre nicht leicht an die Arznei heranzukommen, sie müsse ‚verschrieben‘ werden, hatte ihr neuer Gast gesagt. Genau verstand die Hexe nicht, was das bedeutete. Doch sie war zuversichtlich. Sie hatte schon Schwierigeres gemeistert und dachte:

„Ich werde sie beide retten.“

 

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