Von Sabine Rickert

 

Flora betrat das alte Fachwerkhaus. „Colloportus“, rief sie. Die schwere Eichentür knallte schwungvoll hinter ihr zu.

Ihr Blick, wenn sie ins Haus kam, richtete sich immer zuerst auf die Kommode im Esszimmer. Dort stand Theos Einmachglas. Heute nicht und sie war irritiert. Wo war ihr Frosch? Aus der Küche kamen klappernde Geräusche, und durch die Tür hörte sie ihre Freundin summen. Dann wurde es still. Flora schaute durch die halb geöffnete Tür und sah, wie Ravenna sich etwas in den Mund schob. Auf dem Küchentisch vor ihr stand Theos Glas, es war leer.

„Ist das Theo?“, schrie Flora entsetzt. „Mein Wetterfrosch? Du hast ihn gegessen?“

„Entschuldige bitte, ich komme nicht gegen den Heißhunger an. Ich besorge dir einen neuen Frosch“, entgegnete Ravenna.

„Theo ist nicht austauschbar. Wieso isst du Haustiere, unserer Speisekammer ist voll. Ich hoffe, er hat nicht gelitten“.

Flora war entsetzt und erschrocken über das Verhalten ihrer Freundin.

„Ich brauche sofort einen Zugang zu ihm. Ich werde seine Seele beruhigen und mich verabschieden. Er war mein bester Freund, mein Seelenverwandter“, jammerte sie weiter.

Ravenna wurde hektisch und holte schnell eine Schale, streute Kräuter aus einem Gefäß hinein, dazu ein Überbleibsel von Theo, und dann goss sie heißes Wasser darüber. Ihre Gewissensbisse trieben sie zur Eile an. Sie murmelte einige Zaubersprüche, es stieg weißer Dampf auf und Theos Umrisse erschienen. Weitere Tiere zeigten sich im Wasserdampf: ein Rabe und eine Katze. Floras Augen wurden immer größer, damit hatte sie nicht gerechnet. Ravenna hatte ihr gesagt, dass Raven davon geflogen war. Boris, der Kater und Streuner, ließ sich manchmal wochenlang nicht sehen, daher vermisste sie ihn nicht. Ihre Freundin aß ihre Haustiere. Sie überlegte, was für Ereignisse dazu geführt haben könnten. Ihr Leben war recht unspektakulär. Sie lebten zurückgezogen mitten im Wald. Hat sie eine heimtückische Krankheit? Ist sie verhext worden? Wer hatte Zwist mit ihr? Eher unwahrscheinlich!

Dann erinnerte sich Flora an Ravennas vierhundertfünfzigsten Geburtstag. Sybille, eine alte Freundin aus der Hexenzunft, hatte eine Geburtstagsfeier für sie vorbereitet. Floras Erinnerungen an die Party waren lückenhaft. Sie probierte an diesem Abend zu oft von der selbstgemachten Veilchenbowle, die Beste aus dem ganzen Hexenzirkel.

Flora kontaktierte Sybille und teilte ihr ihre Sorgen mit. Diese hatte ebenfalls Schwierigkeiten, sich im Detail an die Feier zu erinnern, sie war damals genau wie Flora der Bowle verfallen.

„Aber von unseren Hexenschwestern wird doch wenigstens eine mehr über den Abend wissen“, hoffte Flora.

„Ansonsten lassen wir mit ihnen zusammen das Fest bei Neumond einmal neu aufleben“, beruhigte Sybille sie.

Flora lud die Hexen aus dem Zirkel ins Fachwerkhaus ein. Die beiden Freundinnen bereiteten rasant mit ihren Zauberstäben alles für die Verköstigung und Unterbringung vor. Im ganzen Haus wirbelten Gegenstände durch die Luft. Handtücher, die zu den Haken flogen, Bettwäsche, die sich über die Daunenkissen legten. Es brutzelte auf dem Herd und aus dem großen Backofen dufteten die Brote. Bei beginnendem Neumond stellten sich dreizehn Hexen um den vorbereiteten Kessel mit dem speziellen Extrakt. Jede spendetet ein Mitbringsel von der vergangenen Feier und warf es in den Kräutersud. Es stieg ein blauer Nebel empor und auf einmal wurde Ravennas Geburtstag sichtbar. Stimmen waren zu hören und das Fest lief vor ihren Augen ab. Von den Hexen kam ein wissendes Nicken, alle erinnerten sich jetzt wieder an die Vorgänge.

Sybille hatten sich mit Calendula gestritten. Sie war die Einzige im Zirkel, die kein Fleisch aß. Deshalb wurde immer beim Essen ein riesiges Thema daraus. Alle Hexen vermuteten, dass sie nur um Aufmerksamkeit buhlte und es heimlich aß. Calendula hatte den ganzen Abend wie eine Diva über das Büfett gemeckert, weil sie mal wieder zu kurz kam. Zu wenig Gemüse, kein Obst und die einzelnen Nüsse fischte sie sich mühsam aus der Bratensoße. Sybille hatte alles so liebevoll angerichtet und stand dafür zwei Tage am Kessel. Froschaugen, Schweineköpfchen, Krähenfüße, Wolfsschwänze versetzt mit Morcheln und mit Trüffel, dazu Walnüsse und eine Prise Hornspäne. Nachdem Sybille schon etliche Gläser ihrer eigenen Veilchenbowle getrunken hatte und Calendula mit ihren Vorwürfen nicht aufhörte, ist ihr die Hexenschnur durchgebrannt. Sie nahm ihren Zauberstab, hielt ihn in Richtung Calendula und hatte vor, sie in eine Schweinefleischesserin zu verwandeln, damit endlich Ruhe ist.

„Manducare populus!“, befahl sie. Dabei wurde sie von hinten angerempelt und ihr Arm schwenkte nach rechts. Der Zauberstab zielte auf Ravenna, traf sie unvorbereitet und ohne dass sie es bemerkte.

Calendula sagte schnippisch: „Sybille, du hast dich versprochen. Es heißt manducare porcos. Jetzt ist sie eine Menschenesserin, und ich esse weiterhin kein Fleisch, hihi.“

Flora, die sich wieder erinnerte, wurde still und blass.

„Oh, mea culpa, Ravenna, ich war total betrunken von der Veilchenbowle und hatte Sybille angerempelt.

Ich habe Theo, Boris und Raven auf dem Gewissen, und das, was du in Zukunft isst. Wieso Haustiere und nicht Menschen? Wie bekommen wir das jetzt wieder korrigiert, liebe Schwestern?“

Sybille blätterte hektisch in ihren Aufzeichnungen, bis sie die richtige Seite gefunden hatte.

Dann erklärte sie: „Der Zauber entwickelt sich manchmal erst langsam. Es ist möglich, dass zuerst der Heißhunger auf Haustiere oder Wildtiere besteht, später auf Menschen. Nicht alle Hexen reagieren gleich auf diesen Zauber. Am einfachsten ist es, wenn Ravenna einen Menschen isst, dann lässt der Zauber nach und ist erfüllt. Ich würde aber erst einmal einen Rückzauber einsetzen und wir warten ab, ob es hilft. Menschen sind gefährlich und hier in den Wäldern trifft man sie außerdem recht selten“.

Sybille holte ihren Zauberstab hervor, richtete ihn auf Ravenna und sagte gebieterisch:„Finite Incantatem!“ Jetzt half nur Abwarten.

                                                         

Nachdem Flora drei Tage später von einem Besuch bei ihrer Schwester nach Hause kam, traute sie ihren Augen nicht. Die Frontseite des alten Fachwerkhauses war vollständig mit feinstem Lebkuchen verkleidet, dieser war kunstvoll mit Puderzuckerglasur und bunten Zuckerperlen verziert. Es sah märchenhaft aus. Wie ein riesiges Lebkuchenhaus.

„Ravenna, wie hast du diesen Weihnachtszauber so schnell hinbekommen, das Haus sieht traumhaft aus“, schwärmte Flora.

„Ich locke Menschenkinder an, die sind klein und leicht zu führen, weil sie nicht so schlau sind. Sie essen gerne Süßigkeiten, und da Weihnachten nicht mehr fern ist, habe ich mir überlegt, sie mit leckerem Lebkuchen anzulocken. Der Rückzauber war nicht erfolgreich, da ich weiter Appetit auf Tiere und mittlerweile Heißhunger auf Menschen habe. Ich werde es schnell hinter mich bringen. Wenn ich eines gegessen habe, löst sich der Zauber auf, hatte Sybille versprochen. Ich brate es mit Gewürzen, Pilzen und mit reichlich Kräuter“, schwärmte Ravenna. Flora schaute sie irritiert und leicht angewidert an.

„Liebes, ich hoffe das inständig für dich. Ich verbringe die Weihnachtstage bei meiner Schwester. Schicke mir eine Nachricht, wenn du erfolgreich warst. Ach, ich vergaß, wir haben ja keinen Raben mehr. Bitte sei auf der Hut, ich bin im neuen Jahr zurück.“

Eine Woche später näherten sich zwei Menschenkinder dem Lebkuchenhaus. Wir wissen, was passierte. Flora sah ihre Freundin nie wieder.

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Im neuen Jahr hielt Flora mit ihren Hexenschwestern eine Seance ab. Alle hatten den Wunsch, mit Ravenna zu sprechen, um zu erfahren, wie es zu ihrem Tod gekommen ist und um sich zu verabschieden.

Die Hexen saßen um den runden Esstisch und hielten sich an den Händen. In der Mitte des Tisches lagen zwei Knochen von Ravenna, die Flora aus dem Ofen geborgen hatte, und etwas Lebkuchen, um den Zeitpunkt einzugrenzen.

Ravenna zeigte sich den Anwesenden und erzählte ihre Geschichte. Flora war entsetzt und traurig und hatte viele Fragen an sie.

„Wieso hast du den Hänsel fett gefüttert, und warum warst du so naiv und bist in den Ofen gekrabbelt?“

„Mein Fehler, ich hatte reichlich Veilchenbowle getrunken. Die war für die Soße und zum Braten vorgesehen, aber eben nicht nur. Ich hatte Spaß bei den Vorbereitungen und habe mich in Stimmung gebracht. Die Gretel war nicht zart genug und zu groß, der Bruder etwas zu dünn. Ich nahm mir die Zeit für ein perfektes Weihnachtsessen. Die Schwester hatte ich derweil im Haushalt eingesetzt. Der Alkohol wurde mir wieder mal zum Verhängnis.“

Alle zwölf Hexen schauten sich an, verdrehten die Augen und schworen gleichzeitig:      

                                         „Nie wieder Veilchenbowle!“   

 

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