Von Katrin Thelen

„…und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben Hänsel und Gretel noch heute.“

Opa klappt das alte Märchenbuch zu und streicht sanft über den abgegriffenen Bucheinband. „Und?“ Er sah fragend zu seinen beiden vierjährigen Enkeln, die Zwillinge seiner Tochter. „Die Hexe ist blöd!“, rief Lara,  seine Enkelin. „Ich hätte sie auch in den Ofen geschubst!“, pflichtete Leon, ihr Bruder, ihr bei, „dann haben sie die ganzen Pfefferkuchen für sich alleine!“ Kichernd flitzen die beiden aus dem Raum, um bei der Oma ein Stück Schokolade zu stibitzen. Bald darauf hört  man sie herumtollen, das Märchen ist für den Moment vergessen.

Nicht so für Rosa, ihrer 16jährigen Schwester, die heute ebenfalls bei den Großeltern zu Besuch ist. „Warum erzählt man Kindern so grausame Geschichten? Und dann noch welche aus der Steinzeit?“, mault sie. „Das hat doch null mit ihrer Lebenswirklichkeit heute zu tun.“, dozierte sie altklug weiter.

„Meinst Du wirklich?“, fragt Opa den Teenager aufmerksam. Früher war Rosa oft bei ihnen zuhause, heute leider nur noch selten. Rosa sitzt im Schneidersitz auf dem Fell vor dem Kamin in ihrem viel zu großen Kapuzenpulli, einer Jeans mit sorgsam arrangierten Rissen und Löchern und Wollsocken von Oma. „Jedes Kind weiß heute, dass es keine Hexen gibt!“, meckert sie da auch schon erneut, und, scheinbar ohne Luft zu holen, fügt sie noch hinzu: „und selbst wenn doch, wären sie niemals so grausam. Die Hexe hat doch alles! Sie kann sich alles zaubern! Was will sie mit zwei hungrigen Kindern?“

Gemeinsam sehen Opa und Rosa eine Weile schweigend in das knisternde Kaminfeuer. Nach einer Weile spricht Opa: „Vielleicht gibt es eine Erklärung dafür, warum die Hexe so grausam und skrupellos ist. Ich werde dir eine andere Geschichte erzählen. Sie spielt im Jahr 2017.“

 

„Pamela, sagen Sie alle meine Termine heute ab!“

Kaum hatte George die Worte gesprochen, hörte er schon stöckelnde Absätze auf die Salontür zu eilen.

„Aber, Herr…“ ,begann auch sofort die hektisch-quietschige Stimme der Personal-Assistent zu protestieren. 

Abrupt unterbrach er sie mit der ihm eigenen Autorität in einer einzigen Handbewegung:

„Keine Termine!“, ordnete er an. „Nicht mit dem Depp von Regieassistent, schon gar nicht mit dem Besserwisser von Möchtegern-Hauptdarsteller – wer nennt sich schon Roy! Egal. Hören Sie mir zu: Nicht mit dem Friseur. Nicht mal mit dem Präsidenten. Mit niemandem! – Sie können jetzt gehen.“

Die Tür schloss sich von außen mit leisem Klicken. „Kluges Kind!“, lächelte George selbstzufrieden in sich hinein. Sie wusste, das alles andere sie ihren Job gekostet hätte. Gutes Personal war so selten.

Es war Montagmorgen und die arbeitende Welt erwachte aus dem Wochenendschlaf. Grund genug für George, sich und alle daran zu erinnern, dass für ihn andere Gesetze gelten. Wer hier, in  Deutschlands Filme-Mekka, Regie führte über die erfolgreichsten Filme der letzten Jahre, musste sich nicht an den Arbeitszeitenplan der Zivilbevölkerung halten. Im Gegenteil orientierte sich der Plan an ihm. Heute war ihm nicht zumute nach Szenenbeleuchtung und Dialogbesprechung. Sein neuer Film konnte auch einen Tag warten. Sollte der Protagonist doch rumheulen. Ein besseres Engagement würde dieser talentlose Bastard sowieso niemals bekommen.

„Licht!“, sprach er im befehlsgewohnten Ton in den Hall seiner menschenleeren Villa. Fast gequält schaute er auf die überlebensgroße Bronzestatue seiner selbst im Eingangsportal. Was ihm Übelkeit verlieh, waren keine profanen Sorgen. In seinem Umfeld gab es keine reichere, berühmtere und mächtigere Person als ihn selbst. Seine Aufmerksamkeit galt dem Umstand, dass dies auch so blieb. Nicht auszudenken, einer dieser hirnlosen Jungspunde,  die derzeit die Filmszene aufmischten, würde ihn mit einem unverdienten Glücksschlag für immer die Tour vermasseln. Was George so dringend umtrieb, war ein zweites Standbein, das seine Poleposition zweifelsfrei dauerhaft untermauerte. Und dieses Bein war weiblich, das spürte er deutlich.

Für den Abend ließ er Terrasse und Salon stimmungsvoll herrichten, Profis für Filmkulissen umschwärmten ihn oft wie die Motten das Licht, jetzt konnten sie mal nützlich sein.

Protagonistin dieses von ihm geplanten und penibel arrangierten Coups würde Ludmilla Hazel sein, das derzeit angesagteste Sternchen am heimischen Hollywood-Himmel. Natürlich heizte ihre schauspielerische Beliebtheit George an, keine Frage, aber sein Jagdinstinkt wurde vor allem von dem Umstand geweckt, dass sich Konkurrent McTroy angeblich mehr als nur dienstlich für die schöne Lu interessierte.

Wie zweifelsohne zu erwarten gewesen war, erschien diese auf seine Einladung hin überpünktlich, aufgemotzt wie das Topping auf einer mehrstöckigen Sahnetorte, überbordend interessiert an seinem Haus, seinen Smalltalk-Witzen und seinem Drehbuch mit der noch unbesetzten weiblichen Hauptdarstellerin, dass er ihr hier und heute offeriert hatte. Kein Wort über McTroy aus ihrem Mund. George fand, ihr Verhalten und Gehabe war mehr als angemessen. Jetzt war es an der Zeit, ihr den Preis zu nennen.

George kannte sich nicht aus mit Flirtstrategien oder Umgarnungen. Das war nicht sein Stil. Ein Grund vielleicht, warum in seiner 18-Zimmer-Villa neben ihm nur das Personal und niemand sonst ein- und ausging oder jemals jemand seine Zahnbürste hier vergessen hätte.

Als käme der Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung nahe, nahm George ein Glas Champagner vom Tablett und reichte es ihr. Als er sah, wie sie die Lippen leicht öffnete, als wollte sie gleich leise ein „Ja, ich will!“ hauchen, spürte er eine gewohnte Siegesgewissheit. Dazu wählte er die Worte:

„Es wird in der Zusammenarbeit am Set effizient und angenehm sein, meine Anweisungen immer ohne Widerstand auszuführen. Damit meine ich explizit alle Anweisungen!“

Zum Unterstreichen dieser Aussage griff er unmissverständlich mit seiner Hand unter ihren für ihn sehr auffordernd kurzen Rock und packte ihren schmalen Slip mit festem Griff. Mit jetzt ganz offenem Mund starrte sie ihn an. Als es den Anschein machte als wolle sie beginnen, ihn abzuwehren, umschloss er spontan mit der zweiten freien Hand fest ihre Brust. Er gönnte ihr einen tiefen Blick in die Augen, bevor er mit heiserem Tenor von seiner Bühne konstatierte: „So macht man Geschäfte.“ Ganz Herr der Lage drückte er zum Geschäftsabschluss, der nach seiner Meinung hier ganz offenkundig von ihm vollzogen worden war, noch einmal kräftig zu, ihren pulsierenden Nippel fest zwischen Zeige- und Mittelfinger. Fast wie ein Händedruck – nur ohne die dafür erforderliche zweite Hand.

Es war nur ein Wimpernschlag später und doch in einem gefühlt neuem Leben, als er sich vor Schmerzen an seiner empfindlichsten Stelle krümmte. Er konnte nichts recht erkennen, was am Champagner lag, der von seinen Haaren in seine Augen tropfte. Hören jedoch konnte er laut und deutlich die Tür seines Hauses, die in dieser Sekunde ins Schloss fiel.

Das Geschäft war gescheitert, so viel stand fest, und sein gekränkter Stolz war dabei eindeutig das, was am schwersten wog, so seine Überzeugung, die sich alsbald noch als trügerische Fehleinschätzung herausstellen würde.

„Die nächsten Starlets werden morgen hier Schlange stehen.“ So leckte er noch seine Wunden, als ihn der Shitstorm, der ihn ab dem nächsten Morgen mit unvorbereiteter Wucht traf wie eine Lawine, mit sich riss.

Ein Feuerwerk der Schlagzeilen war entfacht, die Presse trieb ihn durchs Dorf, Newskanäle posteten es um die Welt. Sexuelle Belästigung, Machtmissbrauch, Chauvinismus waren da nur die ersten Schlagwörter, die ihm entgegenschlugen. Während die mediale Stimme an diesem ersten Morgen nach dem Moment Null noch Luft holte, war es  eine persönliche Nachricht, die ihn aus dem Gleichgewicht des gewohnt Mächtigen brachte:

„Schätze, an der hast Du Dir mehr als nur die Finger verbrannt, alter Freund. Sorry, steige aus dem laufenden Projekt aus. Andere Pläne, Du verstehst…findest mich bei McTroy, Lu ist auch schon dort. Bye, Roy“

„Pamela, Kaffee, stark! Jetzt!“, schallte sein Ruf über die Gegensprechanlage, blieb allerdings unbeantwortet. Nur das leise Surren der Überwachungskamera war noch immer zu hören.

 

„Das  sicher nicht das, was man als Opa seine Enkeln als schöne Geschichte erzählen möchte“, dachte der Großvater. „Aber Rosa hat ja recht“, überlegt er weiter, „schön ist weder meine Geschichte noch das Märchen der Gebrüder Grimm. Nur das meine Version leider bestimmt kein Märchen ist. Andere Zeiten bringen andere Hexen hervor.“

Eine Weile noch sehen Opa und Rosa schweigend in den flackernden Feuerschein, der so heimelig die Wohnstube erwärmt und so gar nichts mit dem Ofen der Hexe oder dem Schlängeln sinnbildlich zischender Flammen in Georges Villa ohne Lebkuchendach gemeinsam haben.

Rosa ist nachdenklich, noch hat sie nicht wieder zu protestieren begonnen, stellt Opa fest und nimmt dies gern als Lob für sich an.

 

Macht und Magie haben das Potential, die Welt zu verändern, ganz egal, wer sie ausübt. Entscheidend ist, wie man sie einsetzt. Das ist nicht nur im Märchen so.

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