Von Nils Dürr

 

„Raum 3 ist als nächstes dran“, rief Bärbel ihr zu. „Familie Graf.“

 

Lisa schloss kurz die Augen. Was war das hier nur für ein beschissener Nachtdienst. Seitdem sie um 22:30 Uhr in die Klinik gekommen war, hatte sie in der Notaufnahme Patienten untersucht. Aufgenommen hatte sie von den knapp zwanzig Kindern, die ihr vorgestellt worden waren nur eines. Eigentlich wollte sie endlich mal ausruhen, aber in zwei Stunden kam ihre Ablösung und sie musste noch die Blutentnahmen vor der heutigen Visite machen und die Briefe für die zu entlassenden Patienten vorbereiten.

 

Sie seufzte kurz, dann setzte sie ein Lächeln auf und drückte die Klinke zu Raum 3 runter.

In dem Raum erwartete sie eine Überraschung. Ein Elternpaar, sie in Abendkleid, er in Anzug, warteten dort auf sie. Der Mann telefonierte, die Frau starrte auf ihr Handy. Ein breiter Zwillingskinderwagen blockierte fast komplett den Zugang zum Schreibtisch im Sprechzimmer.

 

„Guten Morgen und frohe Weihnachten! Mein Name ist Lisa Becker. Ich bin heute die diensthabende Ärztin“, sagte sie freundlich.

 

Der Vater sprach in sein Telefon: „Du, ich muss Schluss machen, hier ist endlich wer gekommen, um die Kinder anzuschauen.“

 

Die Mutter schaute kurz auf und murmelte: „Wurde auch langsam Zeit. Um 5:00 Uhr in der Früh. Was kann denn da so lange gedauert haben.“

 

Lisa fühlte sich ein wenig vor den Kopf gestoßen, versuchte aber, sich dies nicht anmerken zu lassen. „Es tut mir leid, dass Sie warten mussten. Aber jetzt bin ich ja für Sie da. Was kann ich für Sie tun?“

 

Die Frau ergriff das Wort: „Unsere Zwillinge Johannes und Greta haben seit etwa einer Woche Husten. Wir wollten, dass jemand mal drüberschaut. Wir waren bis gerade auf einem Weihnachtsempfang und wollen nachher noch in den Weihnachtsurlaub in die Karibik fliegen. Deshalb muss das jetzt hier auch zügig gehen.“

 

Perplex sah sie die Eltern an. Am liebsten hätte sie sich kurz auf die Zehenspitzen gestellt, über den Kinderwagen geschaut, sich wieder hingesetzt und gesagt : „Erledigt“, Was noch?“. Stattdessen fragte sie: „Waren Sie mit den beiden denn schon vorher bei ihrer Kinderärztin, wenn sie schon seit einer Woche krank sind? Und wenn ja, was hat die Kollegin gesagt?“

 

Der Vater schnaubte: „Wo denken Sie hin? Meine Gattin und ich haben beide wichtige Posten in einer Firmenleitung, da können wir es uns ja wohl kaum erlauben unsere kostbare Zeit im Warteraum von unserer Kinderärztin zu verbringen. Nachher fangen sich unsere Sprösslinge da noch was ein!“

 

Es fiel Lisa schwer ihre Verärgerung über so viel Unverschämtheit niederzukämpfen, aber sie bemühte sich professionell freundlich weiterzumachen. „Haben denn die Beiden irgendwelche weiteren Symptome? Fieber? Schnupfen? Trinkschwäche?“

 

„Natürlich nicht“, blaffte die Mutter sie an, „sonst wären wir doch schon viel früher zum Arzt gegangen.“

 

„Das freut mich zu hören“, antwortete Lisa. „Dann handelt es sich hoffentlich nur um eine leichte Erkältung! Machen sie doch bitte zunächst eines Ihrer Kinder frei und dann, wenn ich es untersucht habe, das Andere.“

 

Sie wollte sich schon dem Kinderwagen nähern, welcher immer noch sperrig im Weg stand, als der Vater dazwischen sprang und mit aufgebrachter Miene feststellte: „Das muss anders klappen. Wir werden doch jetzt nicht unsere Kinder wecken, wo die endlich eingeschlafen sind.“

 

„Durch das Hemd und durch die Hose gibt es keine Diagnose“, dachte sie sich, hielt es aber für besser, die Situation nicht noch mehr eskalieren zu lassen und sprach diesen Gedanken nicht laut aus. Kurz schoss ihr die Frage durch den Sinn, warum sie überhaupt hatte Kinderärztin werden wollen? Auf Menschen wie diese Patienteneltern hatte sie jedenfalls das Studium nicht vorbereitet. Stattdessen fragte sie: „Aber wie soll ich dann feststellen, ob Ihre Kinder doch kränker sind als vermutet?“

 

„Dafür haben Sie ja schließlich studiert, um so etwas festzustellen. Haben Sie beim Thema Husten etwa an der Uni nicht aufgepasst? Wir wollen, dass Sie uns was für unserer zwei kleinen Engel verschreiben“, mischte sich jetzt wieder die Frau ein.

 

„Kann ich nicht. Ich kann doch nicht einfach ein Medikament verschreiben, ohne zu wissen, was den Patienten fehlt. Außerdem gibt es keine wissenschaftliche Evidenz dafür, dass zum Beispiel Hustensäfte die Erkrankungsdauer verkürzen und auch keine sicheren Daten dafür, dass sie die Symptome mildern. Am besten hilft viel trinken, Wärme und, wenn man die Möglichkeit dazu hat, mit Kochsalzlösung zu inhalieren“, erwiderte Lisa ihr.

 

Wütend drehte sich die Frau zu ihrem Mann um. „Komm Liebling, wir gehen. In dieser Feld,- Wald- und Wiesenklinik scheint niemand qualifiziert genug, so etwas Simples wie eine leichte Erkältung zu behandeln.“

 

Ihr Mann ergänzte: „Dafür haben wir hier jetzt 20 Minuten gewartet, obwohl wir mitten in der Nacht vorbeigekommen sind? Sie könnten gefälligst mal darauf achten, wen sie vor sich haben. Wir und unsere Kinder haben schließlich eine Privatversicherung. Ich werde mich über Sie beschweren. Jawohl, bei Ihrem Chefarzt. Oder, noch besser bei Ihrer Geschäftsführung, den Geschäftsführer kennen wir schließlich PERSÖNLICH.“

Aufgebracht verließen die beiden das Untersuchungszimmer.

 

Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und merkte, wie ihre Beine etwas zitterten und sich langsam die Faust, die sich um ihren Magen gekrallt hatte, wieder lockerte.

 

Bärbel kam herein und fragte: „Was war denn mit denen? So privatversichert kann man doch gar nicht sein!“

 

„Leider doch“, seufzte Lisa. Sie fühlte sich leer und ausgelaugt.

 

Bärbel klopfte ihr kurz auf die Schulter und verließ das Zimmer. An der Tür drehte sie sich nochmals um und fragte: „Kaffee zum Wachbleiben oder lieber einen Kakao, um die Seele zu trösten?“

 

„Lieb von dir, aber wenn ich jetzt Kaffee trinke, dann kann ich gleich zu Hause nicht schlafen. Und wenn ich jetzt Kakao trinke, dann schlafe ich hier auf der Tastatur ein und mache meine Berichte nicht mehr pünktlich fertig.“

 

Bärbel zuckte die Schultern. „Wie du meinst.“

 

Eigentlich machte es keinen Sinn, überhaupt einen Arztbericht für beide der Kinder anzulegen, aber damit sie bei Rückfragen etwas dokumentiert hatte, schrieb Lisa zu beiden Kindern einen Bericht. Mehr als eine Verdachtsdiagnose und eine kurze Krankengeschichte (Seit 1 Woche Husten, keine weiteren Symptome wie Fieber, Rhinitis oder reduzierte Nahrungsaufnahme), sowie der Satz: Da die Eltern eine körperliche Untersuchung ihres Kindes Johannes (bzw. Greta) verweigerten, war keine abschließende Beurteilung möglich, kam dabei nicht zustande.

 

Als der Dienst endlich beendet war, fühlte sie, wie sich bleierne Müdigkeit in ihr ausbreitetet, aber auch Dankbarkeit dass diese anstrengende Nacht endlich vorbei war.

 

Zwei Wochen später wurde sie zu ihrem Chef ins Büro gebeten. „Frau Becker“, fragte er, „was war denn da los zu Weihnachten?“

 

Verwirrt schaute Lisa ihn an. Sie war sich sicher, während ihrer Nachtdienste um Weihnachten herum zügig gearbeitet zu haben, Patienten richtig eingeschätzt zu haben und nichts Wichtiges übersehen zu haben. Sie zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung worauf Sie hinaus wollen“, gab sie zur Antwort.

 

Ihr Chef hielt ihr einen Ausdruck unter die Nase. „Und was ist das hier? Nur einen Stern bei der Google Bewertung und dann auch noch so einen Kommentar. Was haben Sie sich nur dabei gedacht?“

 

„Wobei was gedacht?“, hakte sie nach.

 

„Na lesen Sie doch selber“, schnauzte der Chef und reichte den Ausdruck endlich an sie weiter. „Der Geschäftsführer kennt Familie Graf übrigens PERSÖNLICH.“

 

#Modernes Hänsel und Gretel Märchen?

In einem kleinen Park am Rande unserer Stadt steht, zwar kein Lebkuchenhaus, aber ein Gebäude, wo besorgte Eltern mit ihren Kindern hingelockt werden sollen. Auch wenn so getan wird, als würde dort kranken Kindern und ihren besorgten Eltern geholfen, so mussten wir leider feststellen, dass es sich hier wohl eher um ein Märchen handeln muss.

Am Morgen des 25.12. suchten wir mit unseren Zwillingen, nennen wir sie hier Hänsel und Gretel, die Kinderambulanz in diesem Gebäude, oder sollen wir es Hexenhaus nennen, auf. Nach massiv langer Wartezeit, welche man in der brütenden Wärme des Wartezimmers durchaus als in einem Ofen verbracht bezeichnen konnte, kamen wir endlich in ein Behandlungszimmer. Eine moderne Hexe in Gestalt einer Ambulanzärztin (eine Frau Becker) war nur hinter unseren Kindern her. Sie konnte uns keine Diagnose für die Erkrankung unserer Kinder liefern. Immer wieder faselte sie etwas von Untersuchung. Aber wir ließen unsere zwei kleinen Engel natürlich nicht in die Fänge dieser Frau geraten.

Dieses Hexenhaus und diese Person werden wir nie wieder aufsuchen. NIE WIEDER.

 

Der Chefarzt sagte ihr: „Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie sich etwas Anderes suchen. Kindermedizin scheint eher ungeeignet für Sie zu sein.“

 

„Das habe ich mir auch schon gesagt“, dachte Lisa und beschloss dem Gedanken, warum es unbedingt hatte Kindermedizin sein müssen noch ein wenig mehr Raum zu geben.

 

Ein halbes Jahr später wechselte sie ihre Stelle. Sie hatte die Profession komplett gewechselt und in einem Bestattungsunternehmen angefangen. Hier gab es keine Patienteneltern, die einen anranzten, keine Patienten, die einem ins Gesicht husteten, keine Babys, die einen anpinkeln oder -kacken konnten. Und vor allem keine Google Bewertungen.

 

In den folgenden fünfzehn Jahren entfremdete sich Lisa immer mehr von der Außenwelt. Besondere Freude verspürte sie, wenn sie Verstorbene für das Krematorium vorbereitete. Gegen den seltsamen Geruch auf der Arbeit hatte sie immer einen Raumduft Marke Lebkuchen da.

 

„Dies sind Johannes und Greta Graf“, verkündete der Besitzer des Bestattungsinstitutes eines Tages im Dezember. „Sie machen ein zweiwöchiges Schulpraktikum hier“.

 

Ein teuflischer Plan nahm spontan in Lisas Kopf Gestalt an. Ihre Augen blitzten auffällig und ein diabolisches Lächeln umspielte ihren Mund, als sie sarkastisch sagte: „Willkommen in meiner kleinen Hütte. Im Laufe des Praktikums werde ich euch auch den Ofen im Krematorium zeigen!“

 

 

Version 3, 9993 Zeichen