Von Franck Sezelli

Verwundert schaute Jacob um sich und wusste im Moment gar nicht, wo er war. Das kannte er, denn nach einem oder gar mehreren Tagesmärschen fiel der junge Zimmergeselle oft todmüde auf die Schlafstatt, wenn er endlich eine gefunden hatte. Er lag auf einer breiten Matratze in einem Raum, der von Gitterstäben begrenzt war. Schwaches Dämmerlicht drang durch einen dunklen Vorhang hinter dem Gitter. Plötzlich durchfuhr ihn ein Schreck, als er erkannte, was heute anders war als sonst. Er war nackt, vollkommen nackt. Nirgends war seine Kluft zu sehen.

Auf einmal wurde es hell, der Vorhang war beiseite geschoben worden. Eine bildschöne junge Frau stand am Gitter und schaute ihn an. Da fiel Jacob alles wieder ein. Gestern am Abend war er auf seiner Wanderung in einem dunklen Wald endlich auf ein Haus gestoßen und hatte um Einlass gebeten. Diese junge Frau hatte ihn freundlich aufgenommen, ihm Brot und Braten vorgesetzt und dazu einen Krug voll köstlichen Weins. Er hatte ihr von den Erlebnissen auf seiner Walz erzählt und sie hatte ihm zugelächelt. Ein Kamin verbreitete wohlige Wärme in der Hütte. Ein Teil des Raumes, in dem er mit der hübschen Blonden gesessen hatte, war mit einem Vorhang abgetrennt. Wie Jacob hierher, offenbar hinter diesen, gekommen war, wusste er allerdings nicht.

»Ich sehe, du hattest einen anregenden Traum«, unterbrach eine liebliche Stimme seine Gedanken. »Hast du vielleicht von mir geträumt?«

Jacob wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er versuchte, seine Erregung mit den Händen zu verstecken. »Warum bin ich nackt? Wo sind meine Sachen?«

»Deine Kleidung habe ich im Waschtrog eingeweicht. Sie war schmutzig und roch nicht sehr angenehm. Ich werde sie nachher waschen.

Vor mir brauchst du dich aber nicht zu genieren. Komm bitte her und zeige mir, was du da Schönes hast! Stecke es durchs Gitter und lass es mich befühlen.

Danach bringe ich dir feines Weizenbrot, Milch und Honig zur Stärkung.«

Was sollte der Wanderbursche machen? Die junge Frau hatte ihn wohl in der Nacht willenlos gemacht, vielleicht mit dem Trunk. Sie hatte ihn ausgezogen und in den Gitterkäfig hinter den Vorhang gesperrt. Er war ihr Gefangener. Jacob überließ sich also ihren Händen – und erfuhr ungeahnte Zärtlichkeiten. Von einem Augenblick zum anderen war er ihr verfallen.

Sie entließ ihn aus dem Käfig, worauf der Bursche sich voller Verlangen bei der Verführerin lustvoll revanchierte.

An ein Weiterwandern war in den nächsten Tagen nicht zu denken. Die Anziehungskraft der holden Weiblichkeit hielt Jacob fest. Nana, so nannte sich die Frau, hatte den jungen Mann verhext. Die beiden erfreuten sich gegenseitig an immer wieder neuen und ebenso alten sinnlichen Spielen.

In einer Atempause traute sich Jacob zu fragen: »Wie kommt es, dass eine so schöne junge Frau wie du hier einsam und weit weg von den nächsten Dörfern im Wald lebt?«

»Oh, das ist eine lange Geschichte.

Ich komme aus Bessartshausen hier im Hessischen, etwa einen Tagesmarsch entfernt. Es war meine Oma, die mir schon in frühen Kindertagen viel beibrachte. Sie lehrte mich die Kräuter, Beeren und Pilze des Waldes kennen. Oma zeigte mir, welche man zum Heilen auf Wunden legen konnte, aus welchen sich allerlei Tees und andere Tränke brauen ließen und welche gut zum Essen oder auch zum Würzen der Speisen waren. Manche ihrer Sude hatten überraschende Wirkungen, die die Leute im Dorf verblüfften und für Zauberei hielten. Sie verstand es, mit diversen Mitteln die Sinne der Menschen anzuregen, sie im Glück schwelgen zu lassen und ins Traumland zu schicken. Als ich schon älter war, verriet sie mir Rezepturen, die Frauen und Männer in gegenseitige Begierde und Liebestaumel stürzten.«

 »Das sind doch alles schöne Sachen und erklärt nicht …«, fiel ihr Jacob ins Wort.

»Da hast du recht, aber die Leute nannten meine Oma eine Hexe, die ihre Zauberkünste vom Teufel gelernt hätte. Manche behaupteten gar, dass sie mit dem Teufel buhle.«

»Hat man ihr da den Prozess gemacht?«

»Zum Glück ist es nicht so weit gekommen. Der damalige Pfarrer von Bessartshausen war ein kluger Mann, der auch gern manche der Tränke und Tinkturen meiner Großmutter zu seinem persönlichen Wohl nutzte. Er hielt eine schützende Hand über sie.«

»Das ist ja gut gewesen! Aber wieso du …?«

»Nicht so ungeduldig, mein stürmischer Liebhaber! Ich sehe, du würdest gern schon wieder etwas ganz Anderes mit mir machen, als meine Erklärung zu hören.« Dabei blickte sie dorthin, wo sich seine Gelüste offenbarten. »Meine Mutter hatte von ihrer auch sehr viel gelernt und wurde deshalb auch für eine Hexe gehalten. Leider habe ich sie nie kennengelernt, denn sie ist bei meiner Geburt gestorben. Trotz aller angeblichen Zauberkünste meiner Großmama. Die Leute sahen in diesem Unglück ein Zeichen. Und ich war fortan das böse Hexenkind.«

»Das ist ja schrecklich, arme Nana. Es tut mir so sehr leid.«

»Ach was! Ich hatte meine Oma. Und als ich mich für die Burschen im Dorf zu interessieren begann, wusste ich, wie ich sie mir gefällig machen konnte. Und zwar alle, die ich wollte … Ich habe mich nie mit nur einem zufrieden gegeben. Du hast es ja auch schon bemerkt: Ich liebe die Männer. Aber ich war nicht egoistisch. Wenn ein Mädchen ein Auge auf einen Burschen geworfen hatte, so half ich mit meinen Mitteln, ihn für es zu gewinnen. Umgekehrt tat ich Gleiches auch für die Bauernsöhne und Knechte im Dorf. Ich verriet den Liebenden auch die Geheimnisse, die sie vor unerwünschten Schwangerschaften bewahrten.«

»Ja, das ist doch alles kein Teufels- und Hexenwerk?«

»Richtig! Ich habe dann aber einen großen Fehler begangen.«

»Welchen? Hast du zwei Burschen zugleich in dieselbe Jungfer verliebt gemacht und die haben sich die Köpfe eingeschlagen? Oder was …?«

»Nein, ich bin auf die Schmeicheleien eines verheirateten Bauern eingegangen und habe ihn so verwöhnt, wie er es von seiner Bäuerin nicht kannte. Es hat ihm und mir gefallen. Ich liebe die Männer! Es ist schön, wenn starke Mannsbilder wie Wachs in meinen Händen sind. Genauso wie du auch, mein Süßer!

Meine Talente sprachen sich herum, auch andere Bauern und Großknechte, der Metzger, der Müller, der Bäcker, sogar der Dorfschulze, besuchten mich. Das blieb deren Frauen nicht lange verborgen, die darob ein großes Geschrei anstimmten und viel Schlechtes über mich herumerzählten. Das Hexenkind war zu einer bösen Hexe geworden. Die Weiber lagen dem Pfarrer in den Ohren und fanden Gehör. Ihm erschien mein Lebenswandel längst als gotteslästerlich, er wollte einen Prozess gegen mich anstrengen. Wegen Teufelsbuhlschaft und frevlichem Verstoß gegen das heilige Sakrament der Ehe.«

»Und? Kam es zu einem Hexenprozess gegen dich?«

»Nein, das hat der Bischof in Fulda verhindert. Er hatte gelegentlich auch sinnliche Freuden in meinem Bett genossen.«

»Oh …!«

»Bist du eifersüchtig? Das ist doch Jahre her!«

»Und wieso bist du denn nun hier – mitten im Wald?«

»Als meine Großmutter starb – Gott hab sie selig – wurde es ganz schlimm. Der Pfarrer setzte sich gemeinsam mit den alten Weibern im Dorf durch, selbst gegen den Schulzen. Vor allem wohl, weil sich der alte Lehrer und Kantor nicht gegen seinen Pfarrer und Dienstherrn stellte. Er mochte mich, hatte aber keine fleischlichen Gelüste mehr. So wurde ich aus Bessartshausen verbannt. Dem Lehrer habe ich es aber gemeinsam mit dem Schulzen zu verdanken, dass die jungen Männer des Dorfes mir hier im Wald das Blockhaus hingesetzt haben. Es ist solide und hat alles, was ich brauche. Mit den Früchten des Waldes kann ich mich sowieso ernähren, selbst Fallenstellen habe ich gelernt. So kommt ab und zu auch ein Braten auf den Tisch.«

»Aber du bist ganz allein …« Jacob beugte sich zu ihr und streichelte bedauernd ihre Wangen. Dann gab er ihr einen Kuss.

»Ich bin doch nicht allein! Wie du kommen immer mal Gesellen auf der Walz vorbei. Die Burschen aus Bessartshausen wissen auch, wo sie mich finden. Sogar aus dem Dorf auf der anderen Seite des Waldes kamen schon Mannsleute, um mir Gesellschaft zu leisten.«

»Da habe ich ja Glück gehabt, dich hier allein anzutreffen. Hast du mir eigentlich etwas eingeflößt, um mich in deinen Käfig sperren zu können?«

Darauf antwortete Nana nicht, lächelte nur versonnen.

»Ich bin jedenfalls froh, das Hexenhaus hier gefunden zu haben«, sagte Jacob und lachte. »Beim Abschied von meinem letzten Meister flüsterte er mir zu, dass ich an der großen Weggabelung tief im Wald den rechten Abzweig nehmen soll. Die Meisterin aber mischte sich ein und meinte, ich soll nicht auf ihren Mann hören, nur der linke Weg sei der rechte. Sonst käme ich auf wenig gottgefällige Abwege.«

»So etwas haben mir die Burschen, die mich besuchen, auch schon erzählt. Es kursieren Gerüchte, dass hier tief im Wald eine Hexe haust, die kleine Kinder anlockt, um sie zu essen. Vor allem auf Jungen hätte sie einen Riesenappetit und sperrt sie ein, um sie fett zu füttern. Weil sie schlecht sieht, lässt sie sich die Finger durchs Gitter stecken, um zu fühlen, ob ihr Opfer zugenommen hat. Das erzählen die Weiber im Dorf vor allem den Knaben, damit sie sich das merken und auch später nicht das Hexenhaus suchen, von dem die älteren Brüder hinter der Hand nur Gutes erzählen.« Nana schaute Jacob an und fragte gespielt empört: »Sag mal, habe ich mir von dir den Finger durchs Gitter stecken lassen?«

Jacob schüttelte vor Lachen den Kopf.

»Weißt du was, mein Süßer, ich esse zwar keine Knaben, aber dich habe ich zum Fressen gern und möchte dich jetzt gleich auf der Stelle vernaschen.«

»Da bin ich gern dein Naschwerk«, konnte der junge Mann gerade noch sagen, bevor beide in einem leidenschaftlichen Kuss versanken.

Nachdem die erste Glut wieder gelöscht war, sprach Nana ihre Befürchtungen aus: »Es sollte mich nicht wundern, wenn die Gerüchte von irgendjemandem aufgeschrieben und dann gedruckt werden. Was schwarz auf weiß zu lesen ist, glauben die Leute – und dann bin ich auf ewig DIE BÖSE HEXE.«

 

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