Von Siegfried Reitzig

Die Pest hatte das Dorf heimgesucht und über die Hälfte der Bewohner dahingerafft.
Die Dorfleute in der alten dunklen Zeit waren gar einfache und rohe Menschen und bei solch schrecklichen Vorkommnissen wurde schnell ein Schuldiger gesucht, den man bestrafen konnte.
Es ging nun die Geschichte um, die Dorfbäckerin Bernadette habe ihr Brot vergiftet und so alle krank gemacht, die davon gegessen hatten.
Den Dörflern leuchtete das ein, weil Bernadettes Brot in sehr vielen Küchen auf den Tisch kam und man glaubte bald, dass jeder von den Toten von vergiftetem Brot gegessen hatte, bevor er krank wurde.
Die Dorfältesten machten Bernadette den Prozess und verurteilten sie schließlich – auch wegen ihrer roten Haare – als Hexe zum Tod durch Verbrennen auf dem Scheiterhaufen. 

Es gab kein Entrinnen und Bernadette wurde an einen Pfahl gebunden, um den herum der Scheiterhaufen vorsorglich bereits aufgeschichtet war und darauf wartete, entzündet zu werden, um sein grausames Werk zu verrichten.

Bernadette starb einen schrecklichen und qualvollen Feuertod, aber sie starb nicht allein, denn alles Getier und jede Kreatur, die im Geäst und den Zweigen des Scheiterhaufens Zuflucht gesucht hatten, verbrannten mit ihr.

Die Kreuzspinne Charlotte erlebte gerade ihren zweiten Sommer und weil das Futterangebot reichlich gewesen war, erfreute sie sich einer stattlichen Größe.
Sie hatte ihr beeindruckendes Netz sorgfältig im Gezweig des großen Holzhaufens am Rande des Dorfes gebaut und so schon einiges an Fliegen, Käfern und anderen Insekten gefangen, eingesponnen und verspeist.

Es ging Charlotte großartig und als ein Spinnenmann ihr den Hof machte, erhörte sie ihn und die beiden hielten Hochzeit.
Wie bei Spinnen üblich, ereilte den Spinnerich nach vollzogener Befruchtung seiner Partnerin das Schicksal von Charlottes bisheriger Beute – er wurde eingewickelt und aufgefressen!

In diesem Moment ergriff die Feuersbrunst, die Bernadette aus dem Leben bringen sollte, auch Charlotte und die beiden Wesen verbrannten gleichzeitig.

Durch den gemeinsam erlittenen Feuertod geschah etwas Besonderes – die befreiten Seelen der als Hexe verurteilten Bäckerin und der Kreuzspinnenfrau, die gerade ihren Mann verzehrt hatte, vereinigten sich, verschmolzen und wurden eins.
Das Schicksal dieser achtbeinigen Seele sollte nun die Wiedergeburt in den Körper einer Prinzessin sein, denn Bernadette hatte viel gutes Karma angesammelt und ihr Weiterleben in den gesicherten und gut ausgestatteten Verhältnissen eines Königsschlosses erschien angemessen.

Und so geschah es.

Als die Prinzessin Charlotte von Braunschweig geboren wurde, erblickte sie nicht das Licht der Welt, denn das kleine Mädchen war blind. Charlotte wuchs trotz ihrer Blindheit zu einer selbständigen und schönen jungen Frau heran. Sie genoss vielfältige Ausbildungen, doch das Liebste für die junge Prinzessin war das Backen von Broten, Kuchen und Kleingebäck.
Charlotte liebte die Tiere des Waldes – allerdings verwunderte ihre besondere Zuneigung zu Spinnen, die sie ohne Scheu über ihre Haut laufen ließ. Ihre Eltern schrieben das ihrer Blindheit zu, denn das Mädchen konnte die gruseligen Kreaturen ja nicht sehen.

Als aus Prinzessin Charlotte eine wahre Schönheit im heiratsfähigen Alter geworden war, dauerte es nicht lange, bis ein edler Prinz vorsprach und um das Einverständnis der Königseltern zur Hochzeit bat.
Da Charlotte dem Prinzen zugetan war und ihre Eltern dem Vorhaben wohlwollend gegenüberstanden, wurde geheiratet und das junge Paar bezog den Westflügel des Königsschlosses.
Die Hochzeitsnacht wurde gebührend begangen und war wunderschön.
Als aber der Morgen nahte erwachte Charlottes achtbeinige Seele und die junge Ehefrau fiel über ihren Gatten her, um ihn zu töten und sich an ihm satt zu essen  – die Reste kamen in die Speisekammer…

Das Geschehen dieser denkwürdigen Nacht blieb natürlich nicht unentdeckt und nachdem klar war, dass Charlotte ihren Prinzen grausam ermordet und verspeist hatte, fiel sie in Ungnade, wurde vor Gericht gestellt und als Hexe zum Tode durch Verbrennen auf dem Scheiterhaufen verurteilt.

Nicht noch einmal – dachte die Todgeweihte und es gelang ihr in der Nacht vor der geplanten Hinrichtung aus dem Hexenturm zu entkommen.
Ihre achtbeinige Schattenseele gab ihr die Kraft und wies ihr den Weg für eine Flucht tief in den angrenzenden Wald bis zu einem verlassenen Waldarbeiterhäuschen mit verfallenem Dach.
Charlotte richtete sich in ihrem Unterschlupf ein, reparierte das Dach und schaffte es, den Ofen in Gang zu setzen.
Sie besann sich auf ihre Backleidenschaft und verzierte das Häuschen mit großen Mengen selbst gebackener, verführerisch duftender Lebkuchen, um die Wesen des Waldes anzulocken.
Immer, wenn Menschen oder Tiere den Düften nicht widerstehen konnten und das Häuschen durch die stets offene Tür betraten, wurden sie von Charlotte überwältigt, mit langen Seilen gefesselt und getötet um ihr später als Nahrung zu dienen.
Da aber einige wenige ihrer Opfer entkommen konnten, erzählte man sich in den umliegenden Dörfern bald gruselige Geschichten über die Hexe im Waldhäuschen.

Die Jahre gingen ins Land und Charlotte wurde ein runzeliges altes Weib und zunehmend schwächer.
Sie überlegte sich, dass sie nun Hilfe gut gebrauchen könnte und als die Geschwister Hans und Grete sich von ihrem duftenden Knusperhäuschen  angelockt, in ihrer Küche einfanden, fesselte die Alte zunächst nur Hans, um ihn dick zu füttern und später zu verspeisen.
Gretel sollte ihre Helferin werden und ihr künftig bei der Beschaffung und Zubereitung der Nahrung zur Hand gehen – so dachte Charlotte.
Sie hatte aber die Geschwisterliebe zwischen Hans und der schlauen, gewitzten Grete nicht erkannt, und wurde von dem Mädchen überlistet.
Grete gab vor, den großen Backofen nicht anzünden zu können und als die Alte es ungeduldig vormachte und bereits helle Flammen aus dem Feuerloch schlugen, stieß das Mädchen die blinde alte Frau in den Ofen und sie musste kläglich verbrennen.

Nicht schon wieder – waren Charlottes letzte Gedanken, bevor ihre Seele befreit wurde und sich aufmachte, in einem anderen Körper ein neues Leben zu beginnen.
Noch einmal in Menschengestalt geboren zu werden, war ihr aber verwehrt, denn zu oft hatte sie  anderen Leid zugefügt und zu Tode gebracht.

Deshalb hielt ihr Karma eine andere Kreatur bereit und seitdem lauert der Ameisenlöwe Karl wie zuvor die Hexe aus dem Waldhäuschen und einst die Spinne Charlotte auf die Beute, die sich in seine Falle verirrt.

Und wenn er nicht gestorben ist, dann lauert er noch heute…

 

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