Von Manuel Fiammetta

 

Es war mittlerweile schon die siebte Tasse Kaffee, die Inspektor Hassel in dieser Nacht zu sich nahm. Geschlafen hatte er zuletzt vor einundzwanzig Stunden. Seine Augen waren gerötet und sein Teint erblasst. Die grell von der Decke leuchtenden Neonröhren verstärkten diesen Zustand noch.

Doch dieser besondere Fall, erforderte einen außergewöhnlichen Einsatz.

„Ich …“, fing er an, während er sich mit der linken Hand durchs Gesicht fasste und mit der rechten die Kaffeetasse umklammerte, „… bin fassungslos. Ich habe ja schon einige Dienstjahre auf dem Buckel, aber so etwas kenne ich nur aus Filmen. Oder grausamen Märchen.“

Hassel sah sein Gegenüber mit seinen müden Augen an. Der Blick, der ihm entgegenkam, machte ihn traurig. Wütend. Es schien ihm, als könne er in die Seele der jungen Frau sehen.

„Wir gehen das jetzt nochmal Stück für Stück durch. Ist das okay für Sie?“

Clarissa nickte. Ihre blonden, fettigen Haare fielen ihr dabei ins Gesicht.

„Ihr Name ist Clarissa Schuster. Sie sind vierundzwanzig Jahre alt. Ihre Eltern heißen …“

„Hießen“, unterbrach Clarissa. „Also zumindest meine Mutter hieß so. Sie lebt ja nicht mehr.“

„Ja, tut mir leid. Ihr Vater heißt Johannes Schuster und ihre Mutter hieß Marie Schuster. Sie haben zwei Geschwister. Hannes und Greta. Beide sind 11 Jahre alt.“

„Die Zwillinge“, sagte Clarissa. „Ich nenne sie nur „Die Zwillinge“.“

Hassel stand auf und lief zur Kaffeemaschine. „Erzählen Sie mir doch bitte nochmal, wie das Verhältnis zwischen ihnen, ihrem Vater und ihren Geschwistern war.“

Clarissa wirkte schüchtern, ja gar verängstigt. Die meiste Zeit starrte sie auf den Boden. Ihre Stimme war stets leise. Brüchig.

„Meine Eltern waren sehr glücklich, als sie mich bekamen. Das erzählten sie mir immer. Mein Vater arbeitete viel, aber wenn er zu Hause war, spielte er mit mir und kümmerte sich um mich. Er half Mama auch im Haushalt wenn er nicht zu geschafft war von seiner schweren Arbeit.

Meine Mutter war auch toll. Wir gingen viel spazieren und sie brachte mir das Nähen und Stricken bei. So konnte ich bei meinen Puppen immer die Knöpfe an den Hemdchen selbst wieder annähen. Und einmal hab´ ich sogar einen kleinen Pullover für meine Bella gestrickt.“

„Eine ihrer Puppen?“, fragte Hassel.

Clarissa erhob ihren Kopf und lächelte den Inspektor an. Ihre roten Wangen formten sich zu kleinen Bällchen. „Ja, genau. Bella war meine Lieblingspuppe. Sie war auch das einzige, was ich von zuhause mitgenommen habe.“

„Als Sie ihre Stiefmutter rausgeschmissen hat?“

Clarissa nickte und ihr Kinn versank auf ihrem Brustkorb.

„Erzählen Sie bitte weiter was dann geschah.“

„Meine Mutter wurde öfter krank. Sie hatte nicht mehr so viel Kraft wie vorher. Aber sie wollte unbedingt noch ein Kind haben. Das war ihr großer Wunsch. Mein Vater hatte bedenken. Nicht nur, weil meine Mutter so kränklich war, sondern auch, weil wir immer weniger Geld zur Verfügung hatten. Mein Vater bekam immer weniger Aufträge als zuvor und meine Mutter konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten. Und dann war sie schwanger. Aber nicht nur mit einem Kind. Zwillinge. Das war zu viel für sie. Sie starb bei der Geburt der Zwillinge.“

„Dann waren Sie mit ihrem Vater plötzlich allein.“ Hassel schaute auf seine Notizen. „Sie waren neun Jahre alt, als das passierte.“

Clarissa nickte erneut.

„Was war dann?“

„Nun, mein Vater kümmerte sich so gut es ging um mich. Aber die Zwillinge brauchten viel Aufmerksamkeit. Ich mochte sie nicht.“

„Weil durch ihre Anwesenheit ihr Vater nicht mehr viel Zeit für Sie hatte?“

„Auch deshalb. Aber vielmehr mochte ich sie nicht, weil Mama wegen ihnen sterben musste. Und sie wollten mir immer Bella wegnehmen.“

„Sie sagten vorhin, dass ihr Vater eine neue Frau kennen lernte. Da waren Hannes und Greta etwa zwei Jahre alt…“

„Die Zwillinge waren ein Jahr, zehn Monate und siebzehn Tage alt“, unterbrach Clarissa Inspektor Hassel.

Hassel presste sich ein „Okay“ heraus.

„Ich habe sie gehasst. Diese Frau. Sie war nicht lieb.“

„Warum denken sie das? Was hat sie getan?“, wollte Hassel wissen.

„Es drehte sich alles nur um sie. Und die Zwillinge. Mein Vater durfte nichts mehr bestimmen und ich sowieso nicht. Ich war nur noch zum Putzen gut genug.“

„Hat sie Ihnen weh getan? Sie geschlagen?“

„Nein, nein. Geschlagen hat sie mich nie. Sie hat mich nicht beachtet. Wenn die Zwillinge in die Hose geschissen haben, bekamen sie Lob dafür. Wenn ich etwas Schönes gebastelt habe, fand ich es am nächsten Tag im Mülleimer wieder.“

„Waren Sie traurig deswegen? Oder wütend?“

„Ich denke beides. Kann ich auch noch einen Kaffee bekommen?“ Clarissa hielt Hassel ihre Tasse hin.

„Oh ja… Ja, klar.“ Der Inspektor sprang auf und machte Clarissa und sich noch eine Tasse Kaffee.

„Sie sind der erste, dem ich das alles erzähle. Das fühlt sich gut an“, sagte Clarissa während sie aufsah und ein kurzes Lächeln wieder die Bällchen in ihrem Gesicht formte.

Hassel stellte die Tassen ab. „Was sie erleben mussten, tut mir leid. Wenn Sie noch können, erzählen Sie aber bitte weiter.“

Clarissa nahm drei Teelöffel Zucker für ihren Kaffee, nahm einen großen Schluck und fuhr dann fort. „Eines Tages lauschte ich an der Schlafzimmertür meines Vaters und dieser Frau. Ich hörte wie sie stritten und wie die Frau immer wieder meinte, dass sie mich loswerden müssten. Ich würde nur Probleme machen und Geld kosten, auch weil ich zu viele Süßigkeiten essen würde. Ich liebe Süßigkeiten müssen Sie wissen.“

„Was machte das mit Ihnen?“, fragte Hassel.

„Ich wollte natürlich bei meinem Vater bleiben. Alle anderen hasste ich. Ich fragte mich, wohin sie mich bringen wollten.

Ein paar Tage später wusste ich es dann. Ich sollte in ein Heim für schwer erziehbare Kinder. Die Frau kannte dort jemanden, der mich ohne große Untersuchungen oder Atteste dort aufnehmen würde. Doch das wollte ich auf gar keinen Fall. Ich kam schon in der Schule mit den anderen Kindern nicht zurecht. Wie hätte das dann in so einem Heim sein sollen?“

„Was machte ihr Vater? Hat er sich nicht durchsetzen können?“

Clarissa legte ihre gefalteten Hände auf den Tisch. Sie waren rau und rissig.

„Nein, hat er nicht. Er konnte oder wollte nicht. Mamas Tod veränderte ihn. Er hatte wohl Angst, wieder eine Frau zu verlieren.“

„Dann hat er lieber Sie verloren?“, fragte Hassel ungläubig.

„Es sieht so aus. Aber eines war für mich klar: ins Heim gehe ich nicht.“

„Somit haben Sie den Entschluss gefasst, in den Wald zu ziehen?“

Clarissa lehnte sich zurück und schaute verträumt an die Decke.

„Ich war immer gerne im Wald. Ich bin quasi dort groß geworden. Meine Mama ist mit mir viel im Wald spazieren gegangen und hat mir die Bäume, Pilze und Tiere gezeigt. Für mich war klar, dass ich lieber im Wald leben wollte, als im Heim. Eines Tages dann, bin ich abgehauen.“

Zum ersten Mal hatte Inspektor Hassel das Gefühl, ein wenig Stolz aus Clarissa herausfühlen zu können.

„Sie hatten also gar keine Angst so alleine im Wald. Sie waren fünfzehn und die Hütte, in der Sie lebten, war ja sehr tief drinnen im Wald.“

„Überhaupt nicht. Hier war ich daheim. Hier kannte ich mich aus und hier fühlte ich ganz besonders die Nähe meiner Mutter.“

„Und hier haben Sie also ihren Plan geschmiedet?“

„Ja. Ich war erfüllt von Hass. Diese Frau. Diese Zwillinge. Sie haben mein Leben zerstört. Ich musste etwas tun. Ich dekorierte die Hütte mit vielen süßen Leckereien. Kinder lieben Süßigkeiten, so wie ich, und ich wusste, dass die Zwillinge eines Tages hier langlaufen würden. Und dann war es endlich soweit.“

„Sie haben Hannes und Greta tagelang eingesperrt. Nur durch Zufall hat eine junge Familie die beiden entdeckt. Was…“

„Ich weiß“, unterbrach Clarissa den Inspektor, „die Familie ist einem, mit kleinen Kieselsteinen ausgelegten, Pfad gefolgt. Da hatten die Zwillinge eine gute Idee.“

„Was hätten Sie mit ihnen gemacht, wenn wir die beiden nicht gefunden und befreit hätten?“

„Ich weiß es nicht. Ehrlich. Ich wollte meine Wut an ihnen auslassen. Aber irgendwas hat mich auch immer wieder zurückgehalten. Vielleicht Mama. Wollte ich sie leiden sehen, so wie ich gelitten habe? Ja.“

„Haben Sie denn nicht mal darüber nachgedacht, ob den beiden nicht das gleiche Schicksal wie Ihnen widerfahren sein könnte? Sie von der Stiefmutter nicht mehr gewollt waren?“

Tränen kullerten über Clarissas Wangen.

„Nein. Ich sah zwei glückliche Kinder, die meine Geschwister waren. Denen es besser erging als mir.“

Es klopfte an der Tür und ein Polizist kam mit einem vom Leben gezeichneten Mann herein.

„Papa?“, fragte Clarissa überrascht, während sie von ihrem Sitz aufsprang.

Johannes sah seine Tochter an und brach in Tränen aus. Mit ausgebreiteten Armen lief er langsam auf Clarissa zu. Als sie sich schließlich gegenüberstanden, nahm er sie an sich.

„Ich hoffe, du verzeihst mir“, flüsterte Johannes ihr ins Ohr, kurz bevor Clarissa die Handschellen angelegt wurden und sie den Raum verlassen musste.

In der Tür stehend drehte sie sich zu ihrem Vater um, sah ihn lächelnd an und nickte.

 

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