Von Christa Blenk

Jede Kreatur, auch die Hexe, wird als gutes Wesen geboren. Es gibt keine bösen Babys und Kinder kommen auch nicht frech zur Welt. Ich wäre die Ausnahme dieser Regel, meint meine Mutter. Angeblich bringe ich sie jeden Tag dreimal an den Rand des Wahnsinns. Es stimmt, ich bin praktisch unkontrollierbar, strotze vor Energie und bin ausgesprochen kreativ, wenn es um die Gestaltung meines kindlichen Tagesablaufes geht. Aber bin ich deshalb böse?

Es gibt nur ein Rezept, mich ruhig zu stellen: Geschichten. Die Mutter macht nur nicht oft genug Gebrauch davon, dabei ist sie die beste Geschichtenerzählerin der Welt und ich unterbreche sie nie.

Wiederholungen waren zulässig. Allerdings darf sich die Geschichte in diesem Fall nicht von der erst erzählten Version unterscheiden. Das ist unsere Abmachung und darauf bestehe ich. Ich vergesse nie ein Wort und speichere jedes Detail.

In letzter Zeit hat sich die Mutter perfektioniert. Wahrscheinlich schreibt sie sich alles auf, denn sie hat verstanden, dass eine Abweichung vom ursprünglichen Text ihre Freizeit verkürzt.

Mein Lieblingsmärchen ist Hänsel und Gretel. Vor kurzem wollte ich von ihr wissen, warum die Hexe böse ist. Damals hat mir meine Mutter eine akzeptable Antwort gegeben. Heute war es eine Fangfrage. Sie wusste, was auf dem Spiel stand.

Ich fieberte ihrer Antwort entgegen. Die kleinste Abweichung würde eine Kettenreaktion in Gang setzen. Die notwendigen, klärenden Gespräche das leidige Zubettgehen verzögern und damit direkte Auswirkungen auf ihre Abendgestaltung haben.

„Die Hexe“, begann sie und ich schauderte, „war ursprünglich eine zarte Laubfrau. Sie lebte in den Bäumen, hatte keinen Besen, keinen Buckel, keine Falten, keine krumme Nase und trug keine schmutzigen Fetzen am Leib. Sie war wunderschön und ihr Kleid schimmerte in 123 verschiedenen Grüntönen durch die Bäume. Alle Waldgeister liebten sie und trugen sie mit Hilfe von Zephir durch die Lüfte, so dass ihre weichen, goldenen Haare wellenartig hinter ihr her flatterten.“

An dieser Stelle bedauerte ich es, widerspenstige, braune Haare zu haben. Obwohl, meine zappelnde Unruhe hätte ein Schweben durch die Lüfte sicher erschwert, wenn nicht verhindert.

„Aber dann ist etwas passiert“, fuhr sie mit Spannung in der Stimme fort.

„Eines Tages ist der Baumhautgeist in ihrem Teil des Waldes aufgetaucht. Eine unbekannte Spezies, von den anderen Waldbewohnern skeptisch und misstrauisch beäugt. Die Annahme, das riesengroße, vielarmige, weiße und seltsame Wesen wäre von einem anderen Planeten, sorgte für viel Gesprächsstoff. Dabei handelte es sich bei ihm einfach nur um die Haut eines viel-ästigen und weit verzweigten Baumes, der bei einem Jahrhundertsturm zu Falle gekommen und am moorigen Boden im Jura liegen geblieben war, bis ihn drei Jahre später eine Kunstschaffende auf der Suche nach Motiven erspähte und auserwählte. Kurz darauf begann die Künstlerin, ihm seine Haut, also die Rinde, abzuziehen, ihn zu häuten. Als zweiten Schritt hat sie diese Baumhülle auf die Innenseite gedreht und das über zehn Meter lange und weit verzweigte Gerippe mit Gips, allerlei Flüssigkeiten, geheimnisvollen Rezepturen und Zauber-Tinkturen behandelt.

Der Baumhautgeist erwachte durch dieser Prozedur zum Leben.

Anfangs war er mit seinem Dasein ganz zufrieden, aber bald stellte sich Langeweile ein. Er wollte nicht mehr alleine sein und wünschte sich eine Familie und Kinder.

Eines schönen Tages, beim täglichen in die Luft starren auf seiner saftigen Lichtung, schwebte die schöne, elegante, grün schimmernde Laubfrau Hexie an ihm vorbei. Die beiden haben sich sofort verliebt, beschlossen zu heiraten und eine Familie zu gründen. Aber ihr Glück hielt nicht lange, denn der Baumhautgeist, der sich Hexie mit dem Namen Dr. Vengos vorgestellt hatte, erzählte ihr in einem schwachen Moment, wie er auf die Welt beziehungsweise in den Wald gekommen war. Dr. Vengos merkte sofort, dass Hexie einen Rückzieher machte, denn sie wusste auch, dass man ihn irgendwann einfangen, abtransportieren und in einer Galerie ausstellen würde. Hexie litt still vor sich hin, wollte sich aber unter diesen Umständen nicht mit Dr. Vengos einlassen, denn so jung schon Witwe zu werden, war für sie ein unerträglicher Gedanke und darauf würde es hinauslaufen.

Ein paar Tage später war es dann soweit.

Hexie und Dr. Vengos wollten sich zum letzten Mal in der alten Lebkuchenhütte tief im Wald treffen, weil Hexie auf der sonnigen Lichtung immer so schnell blass wurde. Aber Hexie meinte, die Lichtung wäre in diesem Falle geeigneter, um ihr Schicksal ein weiteres Mal ausgiebig zu bedauern oder vielleicht doch noch eine Lösung zu finden. Bei ihrer letzten Verabredung hatten sie über Flucht nachgedacht, aber Hexie brauchte den Laubwald. Sie würde in einem Nadelwald sehr schnell ihre Grüntöne und damit ihre Schönheit verlieren und das wollte sie auf keinen Fall riskieren. Dr. Vengos hingegen fühlte sich in Waldschneisen recht wohl, dort hatte er Platz für seine weit verzweigten Arme, obwohl er die Hütte durchaus mochte, vor allem die knusprigen Fensterläden.

Hexie kam wie immer ein paar Minuten zu spät, weil sie ihr immergrünes und nuancenreiches Blätterkleid besonders innig und lange poliert hatte. Sie konnte gerade noch sehen, wie ihr Verlobter von einer großen, blonden Frau zusammengeklappt und aufgerollt wurde. Zwei starke Männer haben ihn anschließend lautlos abtransportiert.

Hexie brach zusammen, weinte bitterlich und verlor im Verlauf der folgenden Tage all ihre herrlichen und satten Grüntöne für immer und verrunzelte unter der gnadenlosen Sonne über der Lichtung. Nach einer Trauerwoche war sie nicht mehr wieder zu erkennen. Sie zog sich bitter in die Hütte im Wald zurück und entfernte das „i“ aus ihrem Namen. Während sie sich ihre verbleibenden fünf Eichenblätter ausrupfte, legte sie für jedes fallende Blatt folgendes Gelübde ab:

Nie wieder will ich grün sein!

Nie wieder will ich schön sein!

Nie wieder will ich jung sein!

Nie wieder will ich mich verlieben!

Nie wieder will ich glückliche Menschen in meinem Umfeld sehen und alle Kinder, die mir in Zukunft über den Weg laufen, werde ich einsperren, mästen, schlachten!

***

Mein erschütterter Aufschrei ließ die Mutter zusammenzucken. Dieses Mal war sie grob vertragsbrüchig geworden. Ich führte einen beispiellosen Hexentanz auf, denn dieses Ende hat mir überhaupt nicht gefallen. In der Vorgängerversion hatten sich zwei große Äste von Dr. Vengos in Flügel verwandelt und trotz Hexies Einwände sind sie in einen anderen Laubwald geflüchtet. Hexie und Dr. Vengos wurden dort sehr glücklich und bekamen viele Kinder, die so gerippig wie Dr. Vengos waren, aber in Hexies grünlaubiger Farbenpracht erstrahlten.

„Du hast alles kaputt gemacht. Du bist gemein“, warf ich meiner Mutter zeternd an den Kopf. Das Schlafengehen würde warten müssen, denn hier bestand eindeutig Diskussionsbedarf.

„Aber Lucy, Schätzchen, wie wir alle wissen, ist die Hexe eine böse Gestalt, die niemanden, nicht einmal sich selber, mag. Ich habe beim ersten Mal Deine Frage nicht richtig beantwortet. Aber es kann kein glückliches Ende zwischen Hexie und Dr. Vengos geben, denn dann wäre die Hexe ja heute nicht böse und es gäbe Dein Lieblingsmärchen nicht.“

Diesem Argument hatte ich nichts entgegen zu setzen. Ich zog die Bettdecke über den Kopf und nahm mir vor, beim nächsten Mal gründlicher über eine Frage und deren Folgen nachzudenken, damit so etwas nicht noch einmal passieren würde.

Auf der anderen Seite …….

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Inspiriert von der Künstlerin June Papineau und ihren Installationen im französischen Jura.