Von Kornelia Wulf

… tapp … tapp … die Stille verschluckt den Klang meiner Schritte. Ein Schein zwängt mich ein, fahl und trüb, presst dicke Tränen aus meinem Gemüt. Wie bin ich in diese Kammer geraten? Und wo ist, verdammt, hier nur der Lichtschalter? Der Boden. Schlammweich. Mein Fuß droht durch die Dielen zu gleiten. Hilflos rudern Arm und Hand, versuchen sich festzukrallen an der Wand. Doch unter den Fingern dehnt sich der Stein. Ein leises Stöhnen, er zieht sich zusammen – aus, ein – fast, als könne er atmen. Ein zäher Duft dringt in mich ein – Zimt, Anis, Honig, Vanille – vergewaltigt die Sinne. Da, vor mir, der glänzende Knauf – auf, ab – er scheint mir zu winken. Keuchend quäle ich mich vor, umfasse die kühle, metallene Klinke. Hypnotisch der Blick, ich schreie auf. Eine rote Masse quillt zwischen den Fingern, Himbeeraroma belagert die Zunge. Meine Hand versinkt in Wackelpudding. Die Muskeln wie ein Expander gespannt, will ich mich abstoßen von der Wand, als ich ein leises Schluchzen hör. Warme Feuchte kriecht über den Rücken, kleistrigeTropfen – auf Stirn und Lippen. Sie schmecken so zäh, widerlich zuckrig. Ich öffne den Mund, setz an zum Schrei. Karamellisiert zur harten Kruste schließen sie mich wie einen Paradiesapfel ein. Und der klebt fest an der Wand …

Ich schrecke auf. Wohl wieder ein Kurzschlaf. Und dieser Traum, der mich überfällt. Schon seit Tagen. Ein kurzer Blick durch die Fensterscheibe. Dichte Schwärze strömt vorbei, mündet in einen Lichtschein ein. Verhaltenes Gähnen. Ein Mantelrascheln. Gleich fährt die U-Bahn in den Bahnhof ein und ich muss aussteigen. Einen Moment lang staucht mich die Angst zusammen. Meine Schulter klebt am Sitzpolster fest. Ruckhaft neige ich den Kopf zur Seite, verklemm mir den Nacken. Atme auf. Nicht zu fassen. Und die Furcht zerstiebt zu Spearmintstaub. Ein Kaugummiklumpen hängt an meiner Businessjacke. Auf der Treppe versuche ich ihn abzureißen, ihn in den Abfalleimer am Trottoir zu schmeißen. Angewidert schüttle ich den Kopf. Manchen Menschen sind wohl Borsten gewachsen. Ich schreite vorbei an Häuserreihen. Frische Luft fängt mich ein, ordnet verrutschte Gedanken in meinem Kopf. Heute muss ich klar und wachsam sein. Vor vier Wochen. Der gelbe Brief in meinem Postkasten. Die Bestellungsurkunde. Von Frau Öller unterzeichnet. Die Grande-Dame unter den Richter:innen im hiesigen Landgericht. Und alle Haare, nicht gewaxt, stellten sich auf. Dieser Fall mit den vermissten Kindern, von einer alten Frau gefangen gehalten, der sich mit Giftschlangenzähnen durch die Medien fraß. Die Hexe von Bergstedt wird sie dort genannt. BLIND+ zog wie immer alle Populismusregister. Von Kannibalismus gar war die Rede. Der Zorn der Volksseele brodelte auf, spuckte Töne aus, die nach Lynchjustiz klangen. Hinwegfegen mit dem Flammenbesen solle man den Schmutz ihrer verdorbenen Seele, zündete jemand die Lunte auf Telegram an. Ich rieb die Augen. Konnte es kaum glauben. Über diese Beklagte soll ich das Gutachten schreiben. Ich lud mich zu einem Glas Schampus ein. Die Dopamine tanzten Tango. Das könnte mein großer Durchbruch sein. Wie ein Maulwurf hab ich mich durch die Akte gegraben, Wort für Wort. Vollkonzentriert. Hochleistungssport. Das gesamte Drama könnte ich jetzt auswendig vortragen. Hans und Grete, ein Zwillingspaar. Auf der Suche nach den stets abwesenden Eltern hatten sie angeklopft bei Edda K., wohnhaft in einem Reihenhaus, Waldstraße 8. „Emotional an sich gebunden“ steht in den Zeilen, „oral überversorgt“. Wie missbrauchte Gänselebern soll sie die beiden vollgestopft haben, mit Druck und Zwang. Als der Junge die Nahrung schließlich verweigert habe, sei ein heftiger Konflikt entbrannt, bei dem den Kindern die Flucht gelang. Die Nachbarin Frau M. aus der 8a will das beobachtet haben. Ein Wanderer hatte sie am Ufer der Bille gefunden. Eine Ente lag zwischen ihren Füßen. Völlig zerrupft. Den Blick entleert ins Nichts gerichtet, hätten blutige Federn an ihren Lippen geklebt. Auf den ersten Blick erschienen die beiden unversehrt. Nur der Speck an Gretes Leib. Adipositas Grad I, so der Arzt. Während der gründlichen Untersuchung im Krankenhaus entdeckte er eine zackenförmige Wunde an Hans´ Hand, dort wo sein kleiner Finger fehlte. Bei der Prüfung des Schorfs brach sie auf. Wie aus einer Minifontäne spritzte Eiter auf sein Haupt. Bis dato sei die Wunde nicht verheilt. Die Kinder wurden in die KJPP gebracht. Kein Wort hätten sie gesprochen, seit mehr als zwanzig Wochen, so der behandelnde Psychotherapeut. Nur dunkle Gebilde auf rotem Grund gemalt, zwanghaft, Tag für Tag, in der Mitte von weißen Spitzen durchbrochen. Als ich die Kopien in der Akte anschaute, blitzte eine Assoziation in mir auf. Sie muteten an wie ein schwarzer Bauch, aus dem Zähne wachsen. Und dieses Rot. So blutig der Schlund. Wohl zum Fressen gern gehabt, spann mein Geist weiter …

Schlagartig krabbele ich aus den Gedanken heraus, als ein Windzug meine Wange streift. Ein kleiner Vogel fliegt neben mir. So zärtliche Silben zwitschert er. Auf, ab, sein Federkleid flattert. Unberührt, weiß, die Farbe der Unschuld ungeborener Kinder. (Von woher nur weht der Ideenhauch, der an meine Seele klopft?) Er schwebt voran, als wolle er mich auf den rechten Weg leiten. Während ich mein Ziel erreiche und das stählerne Tor durchschreite, hör ich ihn über mir keuchend piepen. Als winde er sich in einem eisernen Band, zu eng um das kleine Herz geschmiedet. Ich schicke meinen Blick gen Himmel, sehe ihn zwischen Stacheln wippen. Der Draht rund gespannt wie ein Rad, in dem kein Hamster laufen mag, über der hohen Gefängnismauer.

***

Ich knipsel an der Akte herum bis mein Fingernagel splittert. Ein – aus, tief hol ich Luft, atme heraus Stress und Frust und ordne auf dem Tisch Blatt und Stift. Wie gern würd ich jetzt das Fenster aufreißen, um die Sonne einzulassen, die durch das winzige Viereck scheint, von stählernen Stäben in Streifen zerteilt. Als Frau K. den Raum betritt, von einer JVA Beamtin gestützt, fällt es zusammen wie ein Kartenhaus. Mein Stressmanagement aus heißer Luft gebaut.

Mein Blick erforscht ihr Gesicht. Möchte in den Falten verharren, alles über ihren Weg erfahren. Wird, magnetisch angezogen, vom Schlammgrün der Augen eingesogen. Ein süßlicher Duft schleicht sich in die Luft (Zimt, Anis, Honig, Vanille?). Ihr Haar spinnt sich weiß wie im Sinnesrausch um den Kopf als Watteflausch. Speichel flutet den Zungengrund. Ich will hineinbeißen! Letzte Woche beim Termin Waldstraße 8 schlug mir dieser Geruch entgegen. Die Erinnerung daran weckt in mir Scham. An die glatte Fläche geschmiegt, wollte ich lecken an der Wand.

„Hey, cut, reiß dich zusammen!“, herrscht mich die innere Stimme an.

Und ich kappe das starke Empfindungsband, nehme den Stift fest in die Hand und mach sie mit meiner professionellen Seite bekannt.

„Schildern Sie bitte aus Ihrer Sicht, was mit den Kindern geschehen ist.“

„Mein Herz schmolz dahin, als ich sie sah.“ Ihre Stimme klingt leise, aber glasklar. „So verloren standen sie da, an diesem eisigen Wintertag. Ich bereitete ihnen ein heißes Bad. Sie hätten es sehen sollen, wie sie im dampfenden Wasser plantschten. Furchtbar, der Anblick. Kaum noch Haut auf den Knochen, besonders bei Hans. Ich kochte und buk den ganzen Tag. Sparte es mir vom Munde ab. Das Mädel langte zu, ließ sich bemuttern. Aber der Bub.“ Ihre Miene mutiert zur Gramesmaske. „Er saß in der Ecke, stumm und starr, wollte partout den Mund nicht aufmachen. Ich durfte ihn doch nicht verschmachten lassen. Ja, der Hunger.“ Ihr schlammfarbener Blick irrt durch den Raum, als suche er nach einer lang verschlossenen Erinnerungstür. „Den schenkte mir Oma als Gefährten. Der bin ich in die Hände geraten, als meine Mutter mich hatte sitzen lassen in den Trümmern der Nachkriegsjahre. Wer essen will, muss arbeiten, hat Oma gesagt, noch bevor ich in die Schule kam. Punkt fünf musste ich den Ofen kriechen, um den Ruß hinauszufegen. In der engen Öffnung gefangen, fühlte ich mich wie eine schweißnasse Ratte. Als Lohn speiste sie mich ab mit harten Kanten, an denen so mancher Milchzahn abbrach. Trotz der kargen Kinderjahre gedieh der Körper. Besonders an …“. Verschämt schlägt sie Lider nieder. „Na, Sie wissen schon, was ich meine. Geradezu unanständig, unkte Oma, lass dir bloß keinen Braten in die Röhre schieben. Aber nebenan im Nachbarhaus wohnte der Sohn vom Bäcker Claus.“ Süssbitter furcht sich Eddas Haut. „Nur seine Lebkuchensammlung wollte er mir zeigen. Warum mussten sich nur unsere Wege kreuzen? Von Oma stets streng ins Visier genommen, ist sie mir gleich auf die Schliche gekommen, als der Bauch sich unter dem Röckchen wölbte. Sie hat mich zur alten Emma gebracht, die jede Frau im Ort nur heimlich kannte, weil sie die Kindlein zu Engeln machte.“ Ihr Gesicht erstarrt zur Wehmutsmaske. „Auch all die andern. Alle, alle sind von mir gegangen.“ Und als handele es sich um eine nutzlose Attrappe, treffen Trommelfäuste den schlaffen Bauch. Plötzlich beugt Frau K. sich vor. Ich spüre ihre Krallenhand, die wie ein Knoten an meiner Businessjacke hängt. „Hörst du das Rascheln der Engelflügel? Draußen schweben sie vor dem Fenster. Immer, immer rufen sie mir zu.“ Ganz nah kommt sie mir, missachtet die intime Grenze der Distanzzone. Und für einen Augen-Blick seh ich Irrlichter über Moortiefen tanzen.

Auf die trübe Scheibe pickend sitzt draußen vor dem Fenster der weiße Vogel.

***

Nur einen Moment lang noch verweilen. Bevor ich die Treppe zur U-Bahn hinabsteige, krame ich nach dem Taschentuch, das in meiner Businessjacke ruht. Schwer hängt das Herz in meiner Brust. Tropfnass wie ein Wäschebeutel kurz vor dem letzten Schleudergang. Für heute muss ich die Akte schließen. Die Diagnoseklärung steht an im zweiten Termin. Als ich nach dem Zipfel lange, ergreift mich plötzlich grausige Kälte. Aus dem Taschentuch fällt etwas Bläulichweißes. Ein kleiner Finger rollt auf dem Trottoir auf mich zu. Krümmt sich vor mir wie ein anorektischer Wurm.

Hin – her, er scheint mir zu winken.

 

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