Von Susanne Sachs

 

Wer kennt sie nicht, die Hexe aus Hänsel und Gretel?

Die Bilder vor mir erinnerten mich an das Märchen aus meiner Kindheit. Mein Gegenüber, ein älterer Herr mit weißer Kurzhaarfrisur, hatte sie auf dem Tisch ausgebreitet.

Wir kannten uns seit ein paar Monaten, durch einen windigen Zufall. Sein hellgrauer Schal hatte sich in einer Sturmböe selbstständig gemacht. Ich erwischte ihn, als er an mir vorbeiwehte. Eine Sekunde lang befühlte ich die weiche Wolle.

„Warten Sie“, hatte ich gerufen, worauf er umkehrte. Bei der Übergabe kamen wir ins Gespräch, doch eiskalte Luft peitschte uns um die Ohren.

„Das ist ungemütlich“, sagte er. „Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?“

Ich sah auf die Uhr. Für meine Verabredung war ich eine halbe Stunde zu früh. „Gern.“

Nun traf ich ihn das achte Mal, stets in dem rustikal eingerichteten Café. Unsere Unterhaltungen über Gott und die Welt waren inspirierend, sodass ich jedes Mal in freudiger Erwartung zu den Verabredungen antrabte. Gespannt starrte ich auf die Bilder. Was mochte es damit auf sich haben?

 

„Die Alte war hungrig, hungrig auf eine böse Art.“ Er verrührte den Zucker im Tee, doch seine Augen blieben auf mich gerichtet. „Ihr Rücken beugte sich unter der Last ihrer üblen Gedanken.“ Mein Blick wechselte von den Aufnahmen zu ihm und zurück.

„Hm.“ Im Gesicht der abgebildeten Frau prangten Warzen unterschiedlicher Größe und entstellten es, zumal ein Exemplar wie eine hautfarbene Erbse mitten auf der Hakennase thronte, als wollte sie deren Länge zusätzlich betonen. Graue Haare hingen strähnig bis über die Schultern.

„Den schwarzen Spitzhut trug sie nur, wenn sie das nach weihnachtlichen Gewürzen riechende Haus verließ.“

Aus den losen, ebenfalls schwarzen Gewändern schauten knochige Hände hervor, deren linke den Stock hielt, auf den sie sich stützte. Alles in allem bot sich mir kein Anblick, den ich ausgiebiger betrachten wollte.

„Wie abstoßend“, sagte ich, wobei sich meine Nase ohne Zutun kräuselte. 

„Ja, richtig hässlich. Doch das war nicht immer so.“

„Du kanntest sie?“ Seit dem dritten Treffen siezten wir uns nicht mehr. Wir waren Freunde geworden.

 

„Einst war sie begehrt.“ Es klang traurig, wie er das sagte. Oder lag es an dem langsamen Lidschlag und der vorgeschobenen Unterlippe? „In jungen Jahren hatte sie ebenmäßige Gesichtszüge, die trotz einer gewissen Strenge schön wirkten. Wenn sie lächelte, konnte sie sogar mild erscheinen. Leider wusste sie das und setzte es gekonnt ein.“ Bevor er weitersprach, schluckte er leer. „Schwarz trug sie damals schon, jedoch umschmeichelten die Stoffe der Kleider ihre schlanke Gestalt, wenn sie wie ein Fluss an ihr herabrauschten. Stets hielt sie sich aufrecht, um ihre Ausstrahlung zu erhöhen.“

„Wie das?“

„Eitel, wie sie war, probte sie es vor dem Spiegel.“ Mit einem Ruck hob er das Glas und kippte den Brandy hinter. „Täglich beäugte sie Haltung und Mimik. Vorher ging sie niemals vor die Tür. Anfangs tat sie es spielerisch, doch mit der Zeit nahm ihre Selbstverliebtheit irrationale Ausmaße an. Verachtung vergiftete ihr Wesen.“

„So deutlich?“ Statt zu trinken, drehte ich Tasse und Wasserglas hin und her.

„Schlimm“, murmelte er. „Zu einer Freundin aus Kindertagen sagte sie, dass sie sich mit ihr nicht in der Öffentlichkeit zeigen könne. Dabei war diese hübsch, nur unscheinbarer, aschblond und angenehm pummelig. Die Worte der einstigen Spielgefährtin kränkten sie.“

„So gemein“, flüsterte ich.  

 

„Zu den zahlreichen Verehrern verhielt sie sich kein Stück besser. Sie blinzelte ihnen zu, bis sie wie schlabbernde Hunde hinter ihr hertrotteten. Stühle wurden für sie zurechtgerückt, was sie sich wünschte, bekam sie sofort. Komischerweise änderten die dummen Kerle ihr Verhalten nicht einmal, wenn sie einen nach dem anderen abblitzen ließ.“ Er rieb sich die Schläfen. „Das war ihr Untergang.“

„Weil sie dachte, sie kann sich alles erlauben?“

„Ganz genau.“ Erneut huschte ein dunkler Schatten über sein Gesicht. Seine Augen sahen feucht aus, doch die vielleicht erlösende Träne kam nicht ins Rollen. „Außerdem schien sie zu denken, dass Jugend und Schönheit ewig währen.“

„Ist etwas passiert oder war es ein schleichender Prozess?“ Ich wusste nicht, warum ich ihn weiterhin löcherte. Vermutlich raunte mir mein Bauchgefühl zu, dass er reden wollte und kleine Anstupser brauchte.

Wie zum Beweis schüttelte er sich. „Noch nie habe ich das jemandem erzählt. Nicht einmal mit meiner Frau habe ich mich darüber ausgetauscht, obwohl sie sich kannten.“

Erstmals überlegte ich mir, welche Geheimnisse wohl in seiner Seele schlummerten. Keine Frage, er hatte etwas Besonderes an sich. Normalerweise verabredete ich mich nicht mit älteren Männern, doch ich unterhielt mich wahnsinnig gern mit ihm.

„Diese Geschichte quält dich, oder?“ Mein Herzschlag erhöhte den Takt. Was würde ich erfahren? Eine Schocknachricht?

 

„Lass es mich loswerden.“ Plötzlich erschlafften seine Wangen und nicht nur die, auch die Schultern hingen abwärts. „Hier, sieh.“ In der Hand hielt er ein Miniaturgemälde. Er hatte es aus dem Mantel geholt. Sanft strich er über das Bildnis, wahrscheinlich nicht zum ersten Mal, so zerknittert wie es war.

„Wow!“ Diese brünette Schönheit sollte die hexengleiche Frau sein, die er mir zu Beginn gezeigt hatte?

„Ursprünglich wollte sie helfen. Sie besaß Gaben, die ich noch nicht näher benennen mag, um damit das Leben von Kranken oder Gestrandeten zu erhellen. Es schmerzte mich, als Bosheit zunehmend ihr Denken beherrschte und die Oberhand gewann.“ Die Knöchel seiner Finger wurden weiß, als er die Tischkante umklammerte. „Sie wurde krank, wie nur jemand von uns es werden kann. Ihr frischer Teint wurde fahl, auf der glatten Haut bildeten sich Pickel und Warzen. Das ertrug sie nicht, sie sperrte sich in ihrem Zimmer ein. Alle echten Freunde hatte sie verprellt und eine ehrliche Beziehung abgelehnt.“

„Einsamkeit ist furchtbar. Das war sie jetzt, nicht wahr?“

„Und wie. Geblieben war die Vorliebe für Naschwerk, doch sie wurde rund und stieg auf Fleisch um. Ist dir bekannt, welches Fleisch süßlich schmeckt?“

 

Mir wurde schlecht. Schlagartig würgte mich eine Übelkeit, wie ich sie noch nie empfunden hatte. Mein Magen schien sich ständig neu zu verknoten. „Menschen?“, nuschelte ich.

„Entschuldigung.“ Ganz leise wisperte er es. „Du bist blass geworden, das wollte ich nicht. Aber du verstehst sicherlich, dass ich ihre Gelüste nicht ertragen habe. Ich musste mich zurückziehen.“

„Hast du sie nicht angezeigt?“ Protest regte sich in mir, quoll wie heißer Dampf an die Oberfläche. Meine Brauen zogen sich über den Augen zusammen. Wie konnte dergleichen geschehen? Da konnte er doch nicht einfach wegsehen.

„Bitte warte, bis ich fertig bin.“ Er neigte sich näher zu mir als je. „Sie verschwand eines Tages und ich habe sie nicht gesucht. Viele Jahre später kursierten Gerüchte über eine Hexe im Wald, die Kinder anlockte. Daraus wurde ein Märchen.“

„Das glaube ich nicht!“

„Nicht so laut. Ich bitte dich.“ Täuschte ich mich oder zitterte er? Langsam wurde es absurd, dennoch lauschte ich, was er jetzt sagen würde. Und es kam dicke. „Ich bin wesentlich älter, als du ahnst.“ Um seine Hände zogen feinste Nebel, das Teeglas bewegte sich auf einmal ohne jedwede Berührung. „Ich entstamme einer Zaubererfamilie.“

Mir klappte sprichwörtlich das Kinn runter. Sämtliches Blut schoss in den Kopf und in meinem Hirn brodelte es. Keine Ahnung, wie lange mich dieser Zustand lähmte, sicherlich waren es mehrere Minuten. Erstaunlicherweise gelang es mir dann, zu denken und sogar zu reden.

„Warst du mit ihr liiert?“, fragte ich.

„Nein. Ich bin mit der Jugendfreundin verheiratet.“ Er fuhr sich durchs Haar. Eine Träne tropfte vom Kinn. „Die schöne Zauberin, die sich zur bösen Hexe wandelte, war meine Schwester.“

 

Version II, 7758 Zeichen (mit Leerzeichen)