Von Michael Kothe
Das Knarren der Wohnungstür und ein spitzer Schrei riefen mich in den Flur. Hastig schob ich meinen Stuhl zurück und stürzte aus dem Arbeitszimmer. Kälte schlug mir entgegen, sicherlich hatte wieder ein unbesonnener Nachbar das Fenster im Treppenhaus geöffnet – die Leute lernen ja nie, wie man richtig lüftet. Noch mehr schüttelte ich mich, als ich meine Frau stocksteif in der Wohnungstür stehen sah. Mit offenem Mund und mit hochgezogenen Brauen sah sie unseren Nachbarn an, der vor ihr stand. Noch hielt er die Hand über dem Klingelknopf, sie musste also schon im ersten Moment geöffnet haben. Er schaute genauso verdutzt wie meine Frau, fand aber seine Fassung wieder, als er mich erblickte.
»Das hier …« Er beugte sich nach links, wo an seinem Bein ein flaches Paket lehnte. »Das hier«, begann er von Neuem, diesmal mit einem scheuen Seitenblick auf meine Frau, »wurde für Sie abgegeben. Heute Vormittag. Sie waren nicht da.«
Gerade wollte ich ihn begrüßen und mich dafür bedanken, dass er ein Paket für uns angenommen hatte, als meine Frau mir zuvorkam. Halb drehte sie sich zu mir um.
»Hast du etwa wieder etwas bestellt? Ich hatte dir doch gesagt, dass ich nichts zu Weihnachten will. Und so ein sperriges Paket … Was da drin ist, will ich mir gar nicht vorstellen. Ich weiß nur, dass wir es nicht brauchen und dass es wieder reichlich Platz wegnimmt.«
»Schatz, ich habe nicht …«
Erleichtert atmete ich auf, als sie mir die Verpflichtung abnahm, mich entschuldigen oder rechtfertigen zu müssen – sie widmete sich wieder unserem Nachbarn.
»Was haben Sie für uns ausgelegt?«
»Nichts. Alles sei bezahlt, meinte der Paketbote. Ich musste nur den Empfang quittieren.« Er bückte sich, hob das Paket an und reichte es mir. Hochkant, damit es nicht an den Türrahmen stieß.
Gegenseitig wünschten wir uns einen guten Abend, und als der Nachbar in seiner Wohnung verschwunden war, schloss meine Frau die Tür und folgte mir in die Küche, wo ich das Paket flach auf den Tisch legte. Die Kanten waren hart, die beiden Flächen wölbten sich beim Drücken leicht nach innen. Alles in Allem eine stabile Verpackung.
»Schatz, ich habe wirklich nichts bestellt. Keine Ahnung, was das ist.«
Ihre Augen funkelten zornig, sicherlich glaubte sie mir kein Wort. Seit Längerem hing bei uns der Haussegen schief. Und das nicht nur, weil die Weihnachtszeit ihre Schatten in Form überzogener Erwartungen und Stress vorauswarf wie üblich, wenn Besuchsandrohungen, Veranstaltungen und andere Verpflichtungen sich vor einem aufbauen.
»Hilf mir mal!«, meinte sie statt weitere Kommentare. Nun bemerkte auch ich, dass das Paket mit der Rückseite nach oben lag, der Adressaufkleber – hoffentlich mit Absenderangabe – schaute demnach zur Tischplatte.
Gemeinsam, um nichts zu beschädigen, drehten wir vorsichtig das Paket um.
Meine Frau bekam große Augen, ihre Mundwinkel zogen sich nach oben.
»Du bist … das hast du … das hast du für mich zu Weihnachten bestellt? Du bist ein Schatz!«
Meinen Einwand, dass ich wirklich – wirklich – nichts mit dem Paket zu tun hatte, schluckte ich hinunter, als ich das auffällige Etikett mit dem Absender las.
Die Kunstgalerie Arte del Mundo war uns nur zu gut bekannt. Von Filialen in mehreren internationalen Metropolen – ein kleines Imperium moderner Kunst mit wechselnden Ausstellungen. München, Verona, Wien … Bei unseren Besuchen hatten wir nie einen Gang durch die musealen Hallen versäumt. In Bilbao lag das dortige Arte del Mundo nur einen Steinwurf vom Guggenheim-Museum entfernt. Malerei hat uns immer schon begeistert, hatte uns überhaupt zueinander geführt, und wir hatten die Zeit und das Geld, uns Reisen und den Kunstgenuss zu gönnen. Der Gründer und Betreiber des Arte del Mundo, ein gewisser Hurtado de Escalante, ist ein zeitgenössischer Maler und Bildhauer, dessen Stil wir persönlich zwischen Hundertwasser, Gaudí und Salvador Dalí einordneten. Was nicht verwundern sollte, denn Friedensreich Hundertwasser ließ sich von den Werken Gaudís inspirieren. Letzterer war zwar kein Maler, sondern Architekt, aber dennoch sehen wir die Farbenpracht und die Fröhlichkeit bei jedem Gedanken an seine Bauwerke bildhaft oder als Modell vor uns. De Escalante ist trotz seines Weltruhmes im Gegensatz zu vielen Künstlern eine eher stille Natur, lebt zurückgezogen und glänzt in den einschlägigen Magazinen durch die Abstinenz jeglicher Skandale und Exzesse.
Im Lauf der Jahre wich unsere Begeisterung für Kunst der Gleichförmigkeit und Gleichgültigkeit des Alltags. Unser gegenseitiges Interesse und die Zuneigung erfuhren das gleiche Schicksal.
Wir schluckten trocken, und als wir uns gesammelt hatten, holte meine Frau aus der Schublade ein Küchenmesser und schlitzte das Packpapier dort auf, wo seine Ränder überlappten. Mit gerunzelter Stirn schauten wir einander an, das Abziehen brachte uns keine Erkenntnis. Eine quadratische Sperrholzplatte von Rand zu Rand auf einen Lattenrahmen geschraubt. Einzig ein Umschlag – mit Klebefilm auf der Platte fixiert – versprach, uns weiterzuhelfen. Mit zitternden Fingern löste ihn meine Frau und zog, da er unverschlossen war, zwei Blätter heraus. Eins war mit dem Wort Echtheitszertifikat überschrieben. Sie reichte mir das andere.
»Lies du, das ist auf Spanisch, und das verstehe ich nicht. Also übersetze es bitte.«
Begierig, mich der Lösung für unsere Überraschung zu nähern, griff ich nach dem Brief und rückte meine Brille zurecht.
»Liebe Familie Leberecht,« begann ich die handgeschrieben Zeilen einzudeutschen. Der Text war lang, und immer flüssiger wurde meine Übersetzung.
»… lange habe ich nach Ihnen gesucht, und ich bin glücklich, Sie endlich gefunden zu haben. Dass Sie sich nach all den Jahren nicht mehr an mich erinnern, darf ich ohne Bedauern und ohne Vorwurf an Sie vermuten.
Ein unbekannter und unbedeutender Künstler war ich, hatte mich einer scheinbar brotlosen Kunst verschrieben. Nicht jedes berühmte Bild ist gut, und noch viel weniger hat jedes gute Bild das Los, berühmt zu werden. So lebte ich von der Hand in den Mund, stand verzweifelt vor dem Scherbenhaufen meines damals noch jungen Lebens und flüchtete mich in den Alkohol, der mich noch depressiver machte. Ideen blieben aus, ich malte Altbackenes, für das sich niemand interessierte und das weder Kunden noch Mäzene anzulocken geeignet war.
Es war die gleiche eiskalte Jahreszeit wie jetzt, als ich mit einem Stapel meiner Werke versuchte, auf einem Flohmarkt ein paar Mark einzunehmen, um meine Mietschulden zumindest ansatzweise zu begleichen. Ein, zwei Bilder hatte ich verkauft, was kaum die Kosten für Leinwand und Farbe deckte. Dann traten Sie an meinen Stand, stöberten durch alle meine mitgebrachten Gemälde, riefen beim Betrachten laut Erinnerungen wach an Ihre Reisen, an schöne Momente. Durch Ihre Kommentare ließen Sie mich teilhaben an Ihrem erfüllten Leben, an Ihrem Interesse für Kunst und an Ihrem Geschmack. Zwei Bilder kauften Sie mir ab, Sie feilschten nicht, sondern gaben meinen Werken einen Wert, den ich nicht mehr zu erhoffen gewagt hatte. Erst, als Sie sich längst zwischen den Flohmarktbesuchern verloren hatten, bemerkte ich, dass unter meinem Tapeziertisch noch immer Ihre Plastiktüte stand. Als ich als einer der Letzten meinen Stand auflöste, hatte ich die Hoffnung aufgegeben, Sie kämen zurück. Also nahm ich die Tüte nach Hause mit, wo ich die Figuren daraus in meinem Studio einfach am Fenster abstellte.
Am nächsten Morgen badeten die kalten Strahlen der winterlich schwachen Sonne das Ensemble in einem magisch scheinenden Silberleuchten. Der Anblick inspirierte mich zu einem neuen Werk, zu etwas in der Kunst nie Dagewesenem. Tatsächlich schuf ich eine neue Kunstrichtung. Nicht im Sinne des alten Surrealismus, sondern durch die Kombination vermenschlichter, also surrealistischer Tierfiguren und einer realen Umgebung. Meine Bilder zogen Interessenten an – Käufer wie Galeristen gleichermaßen.
Ihr Verlust schenkte mir Inspiration und Lebensfreude und machte mich erfolgreich. Dafür kann ich mich heute endlich bedanken. Mein kleines Geschenk soll Ihnen Freude bereiten, obwohl es als Dank für mein nun erfülltes Leben nicht ausreicht. Es ist das erste Bild, das ich nach dem schicksalhaften Flohmarktbesuch gemalt und trotz aller verlockenden Angebote nie verkauft habe. Stets war ich überzeugt, meine Gönner zu finden und ihnen ein wenig von dem zurückzugeben, was sie mir – wenn auch sicherlich unbeabsichtigt – vermacht haben.
Ich grüße Sie von Herzen und voller Dankbarkeit.
Ihr Hurtado de Escalante«
Bestürzt über die Lebensbeichte eines weltberühmten Menschen sahen meine Frau und ich uns an. Eine unbestimmte Ratlosigkeit hielt uns immer noch umfangen. Wir hätten de Escalante …
»Nun schraub die Bretter ab und hol das Bild aus seiner Kiste!«, verlangte meine Frau, während sie schon aus der Küche eilte, um gleich darauf mit meiner kleinen Werkzeugtasche zurückzukehren.
Achtmal surrte der Akkuschrauber, was für uns sehr prosaisch klang angesichts unserer Neugier, dann hob ich die Sperrholzplatte ab.
In seinerzeit seltenem Einvernehmen hängten wir gemeinsam einige Bilder im Wohnzimmer ab. Die Wand über unserer Couch ziert seitdem ein Gemälde mit drei Fröschen. Gelegentlich stehen wir heute noch aneinander geschmiegt und eng umschlungen davor. Wir strahlen vor Befriedigung und Glück über unseren Beitrag zur Karriere eines schon resignierten Künstlers und darüber, dass sein Bild uns wieder aneinander geschmiedet und uns die Harmonie und das gemeinsame Interesse an der Kunst zurückgebracht hat. Ehrlich gesagt hatten wir unseren spontanen Flohmarktkauf, die grünen Figuren mit Rollator, Jagdgewehr und Stinkefinger, nie wirklich vermisst. Irgendwie hätten wir damit nichts anfangen können.
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