Von Louise Hofmann

Tym versuchte krampfhaft das Zittern seiner Glieder zu unterdrücken. Er war gleich da. Nur noch ein paar leigh. Dann hatte er die Höhle unter dem Gipfel arsang trevdrents erreicht, des heiligen Berges der cumorche, des einst großen Feenvolkes. Doch diese glorreichen Zeiten lagen viele, viele Äonen zurück.

Seine Finger glitten von den scharfen Felskanten ab. Sein Atem ging keuchend. Die Luft hier oben war schneidend kalt. Panisch klammerte Tym sich fest. Mühsam versuchte er sich hochzuziehen. ‚Ich will doch nur fliegen.‘, dachte er verzweifelt. Doch sein Körper weigerte sich, den Rest des Aufstiegs zu bewältigen.

Seine Arme gaben nach, doch seine verkrampften Finger wollten sich nicht von dem rauen Halt lösen. Hilflos hing er an der steilen Felswand. Dann gaben seine Glieder nach und er fiel. Der Wind, der am Berg herrschte, riss ihm den Schrei von den Lippen.

‚Ich will doch nur fliegen!‘ Tränen liefen ihm aus den Augenwinkeln, hingen glitzernd in der Luft.

Einige andere konnten fliegen. Aber Tym gehörte zu den zwei Dritteln, dessen Flügel zwar vorhanden aber absolut nutzlos waren. Es war nicht gerade angenehm, einer von denen zu sein, die am Boden festsaßen und keine Chance hatten, das Leben so zu genießen wie diese wenigen, die die Spitze der Gesellschaft bildeten. In den alten Chroniken hieß es, dass einst alle hatten fliegen können. Tym hatte nach dem Grund dafür gesucht, dass das jetzt nicht mehr so war. Aber die verschiedenen Quellen widersprachen einander. Dafür waren sie sich einig, dass die Gabe zu fliegen das erste und einzige Mal von den Priesterinnen, die auf dem Gipfel des Berges ihr Leben vollständig den Göttern widmeten, seinem Volk verliehen wurde.

Noch nie hatte es jemand gewagt, den Berg zu erklimmen und die Priesterinnen zu bitten ihm oder ihr die Gabe zu verleihen. Aber Tym hatte keine andere Wahl. Er träumte ununterbrochen vom Fliegen, konnte an nichts anderes denken. Es trieb ihn in den Wahnsinn. Also hatte er dem Ruf des Berges folgen müssen.

Und nun fiel er. Es war nicht wie fliegen, aber es fühlte sich unglaublich gut an. Der einzige Haken war, dass dieser freie Fall recht bald ein unangenehmes und wahrscheinlich tödliches Ende nehmen würde.

Tym schloss die Augen. Er wollte die spitzen Felsnadeln nicht auf sich zurasen sehen.

 

Als Tym wieder zu sich kam, lag er mit dem Gesicht nach unten auf rauem Fels. Er spürte keine Schmerzen. Mühsam hob er den Kopf und setzte sich auf. Plötzlich schienen seine Flügel in Flammen zu stehen. Keuchend holte Tym Luft. Er wollte schreien, doch kein Laut kam über seine Lippen.

Er hatte keine Ahnung, wo er war und seine Umgebung verschwand immer wieder hinter einem lästigen Tränenschleier. Sein Körper fühlte sich seltsam schwer an. Er konnte nicht aufstehen.

Vor ihm schwebte ein Gesicht in der Dunkelheit. „Du willst fliegen, nicht wahr?“

Tym nickte. Das Feuer in seinen Flügeln loderte auf. Er krümmte sich.

„Dann wirst du fliegen!“ Die Stimme bereitete ihm Gänsehaut.

Plötzlich hatte er Angst. Eiskalte Schauer überliefen ihn. Er bekam keine Luft mehr. Dann löste sich der Boden von seinem Körper. Tym schrie, auch wenn er nicht wusste, woher er den Atem dazu nahm.

Die Ränder seines Sichtfelds flackerten.

„Flieg!“, rief ihm die Stimme zu.

Tym fiel.

 

Er fiel noch immer, doch diesmal verlor er nicht das Bewusstsein. Der Boden raste ihm entgegen. Seine Konturen schälten sich langsam aus der Dunkelheit. Das Licht der aufgehenden Sonne tanzte über die scharfen Kanten der Felsnadeln unter ihm.

‚Breite die Flügel aus oder du wirst aufgespießt.‘

Tym wusste nicht, woher diese Stimme in seinem Kopf kam, doch sein Körper befolgte den Befehl, bevor er auch nur die Chance hatte, darüber nachzudenken. Die Luft schien sich zu verdichten. Sie trug ihn nicht nur, sie hob ihn empor. Er glitt in einer langen Spirale nach oben. Aus dieser Perspektive betrachtet war der Berg wunderschön. Das erste Licht des Tages brachte einige Farbschattierungen zum Vorschein, die vermutlich niemand, der im oder auf dem Berg lebte, je gesehen hatte. Es war so schön, dass es Tym den Atem verschlug. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich frei. Es war berauschend.

Er erreichte einen Vorsprung und schaffte es zu landen. Dabei zog er sich mehrere Schrammen zu. Mit beiden Händen klammerte er sich an den Fels.

‚Ich kann fliegen‘, dachte er ungläubig. ‚Ich kann fliegen…‘ Fassungslos versuchte er einen Blick auf seine Flügel zu erhaschen. Hatten sie sich verändert? Waren sie größer? Kräftiger? Strahlender?

Rein optisch unterschieden sich die Flügel des einen flugfähigen Drittels nicht von denen der anderen. Keiner wusste, warum sie fliegen konnten und alle anderen nicht, aber das war auch nichts, was jemals in irgendeiner Form erforscht worden wäre. Die Flieger waren die herrschende Klasse. Sie waren diejenigen, welche die Gesetze schufen, nach denen Tyms Volk lebte.

Beim Gedanken an die herrschende Klasse seines Volkes begann er zu zweifeln. Wie würden sie ihn aufnehmen? Würden sie ihn als einen der ihren anerkennen? Wie würden seine Freunde und seine Familie auf seine neue Fähigkeit zu fliegen reagieren?

Es war unmöglich zu verheimlichen. Er konnte seine Flügel nicht kontrollieren. Er war nicht mit der Fähigkeit zu fliegen geboren worden und es gab niemanden, der es ihm freiwillig beibringen würde.

Es gab nur eine Lösung: er musste fort; soweit fort wie möglich. Behutsam faltete Tym seine Flügel zusammen. Er traute ihrer neuen Flugfähigkeit nicht. Dann machte er sich an den Abstieg.

 

Am Boden war es wärmer, als Tym erwartete hatte. Die heftigen Böen, die den Berg stetig umtosten, waren hier unten kaum zu spüren. Tym hielt inne, um tief durchzuatmen. Mit geschlossenen Augen lehnte er am rauen Fels des heiligen Berges. Der Wind flüsterte leise. Es war dem Wispern im Innern des Berges nicht unähnlich. Das Flüstern umschmeichelte Tym. Der Wind strich sanft über seine Haut.

„Geh nach Osten!“, hauchte eine Stimme im Wind. „Dort findest du ein anderes Volk, das zum Fliegen bestimmt ist.“

Tym nickte schwach. Obwohl er festen Boden unter den Füßen hatte, zitterte er am ganzen Leib. Langsam löste er sich von der sicheren Wand des Berges.

Die Sonne stand bereits tief und Dunkelheit breitete sich im Westen aus. Doch um den Berg herum war die Landschaft kahl, nur gelegentlich spross hie und da ein Büschel Heidekraut zwischen den Felsen.

Tym taumelte vorwärts, der aufziehenden Dunkelheit entgegen.

 

Als Tym die Augen aufschlug, blickte er in die gleißende Sonne hoch über ihm und schloss geblendet die Augen. Er konnte sich nicht daran erinnern, sich schlafen gelegt zu haben. Die Hand zum Schutz vor der Sonne erhoben, richtete Tym sich auf.

Etwas riesiges erhob sich unmittelbar vor ihm. Erschrocken wich Tym zurück und unterdrückte einen Schrei.

„Wer bist du?“ Die Stimme kam von rechts.

Er wandte den Kopf. Dort auf dem Rücken des Wesens saß eine flügellose Kreatur, das Tym abgesehen davon sehr ähnlich sah.

„T- Tym“, stammelte er.

„Ich bin Max und das ist Runa.“ Das flügellose Wesen deutete auf sein Reittier. „Was willst du hier?“

„Er will fliegen lernen.“, antwortete sein Reittier. „Und ich bin ein Drache.“

Tym nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte.

„Nun ich bezweifle, dass dir hier jemand das beibringen kann, weshalb du gekommen bist.“

„Ich weiß nicht, Runa.“, erwiderte Max. „Auch unter deinesgleichen gibt es solche, die Schwierigkeiten haben, ihre Flügel ihrem Willen zu unterwerfen. Vielleicht findet sich dort ein Platz für ihn.“

„Er ist nicht wie wir!“, hielt Runa dagegen.

„Mag sein. Aber er braucht Hilfe. – Komm, flieg mit uns!“, verlangte Max.

„Ich weiß nicht, ob ich das kann.“, flüsterte Tym.

Aber Runa erhob sich einfach in die Luft und entfernte sich.

Tym starrte ihr einen Moment lang nach. Schließlich machte er einen Hüpfer und versuchte, seine Flügel zu koordinieren. Dann bemerkte er, dass er fiel. Tym sah sich bereits zerschmettert am Boden liegen. Doch plötzlich schloss sich eine Hand um seinen Arm und er wurde hinauf in die Lüfte getragen. Die freie Hand glitt über die rauen Schuppen des Drachen auf der Suche nach Halt. Schließlich erreichte er den Rücken und die Hand schloss sich um eine scharfkantige Rückenschuppe.

„Gut festhalten.“, flüsterte Max ihm ins Ohr.

Mit einem flappenden Geräusch schlug der Drache mit den Flügeln und trug sie höher hinauf in den Himmel.

 

Tym fiel beinah vom Rücken des Drachen, als dieser landete. Sie waren umringt von anderen flügellosen Wesen, die Max sehr ähnlich sahen. Der Himmel über ihnen verdunkelte sich. Dann stießen die Drachen und ihre Reiter herab. Tym fiel vom Rücken des Drachen und krümmte sich auf dem Boden zusammen.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. „Keine Angst. Sie werden dir nichts tun.“ Das war wieder Maxs Stimme und sie erklang direkt über seinem Ohr.

Als Tym sich wieder aufrichtete, sah er in Augen, die ihn an die der Bergfalken erinnerten; bernsteinfarben um die Pupillen und hellgrün an den Rändern. Die Frau, der diese Augen gehörten, hatte ein scharf geschnittenes Gesicht und ihr Blick schien zu brennen. Sie musterte Tym.

„Was ist hier los?“ Jemand drängte sich durch die Menge. Eine weitere flügellose Kreatur schob sich zwischen den Umstehenden hindurch. „Wer bist du und was willst du hier?“ Die Frage galt Tym. Seine Kleidung wies ihn als Anführer aus.

„Ich will fliegen lernen.“

„Dabei können wir dir nicht helfen! Du solltest besser wieder gehen.“

Tym ließ den Kopf hängen. Er nickte und trottete davon. Die Menge teilte sich vor ihm. Sie wichen vor ihm zurück, als ob er eine ansteckende Krankheit hätte.

„Ich nehme ihn!“

Ein Raunen ging durch die Menge.

Tym erstarrte. Langsam drehte er sich um.

Die Frau mit den Falkenaugen sah ihn an. „Ich nehme ihn“, wiederholte sie.

Der Anführer knurrte. „Auf deine Verantwortung.“

„Natürlich.“ Die Frau lächelte, winkte Tym zu sich und ergriff seinen Arm, sobald er in Reichweite war.

Er verlor den Boden unter den Füßen, als sie ihn mit sich in die Lüfte zog. Erstaunt starrte Tym ihre Flügel an, die sich nun entfalteten.

„Dein Unterricht beginnt jetzt!“