Von Ursula Riedinger
Es ist ein wunderschöner Apriltag, warm für die Jahreszeit, schon fast frühsommerlich. Seit ich meine Arbeit reduzieren konnte, verbringe ich meinen freien Tag gerne irgendwo draussen, wenn das Wetter es zulässt. Heute ist so ein Tag. Ich habe mir meine Lieblingsdecke und ein Buch mitgebracht, um zwei Stunden im Schatten zu liegen und zu lesen oder zu dösen. Rundherum sitzen junge Leute auf der Wiese am See und geniessen den herrlichen Tag. Da ich nicht mehr so gerne in der direkten Sonne sitzen mag, wähle ich mir ein Schattenplätzchen. Ich freue mich schon, mit meinem Buch zu beginnen. Das neuste Buch von Charles Lewinsky. Ich habe es mir gemütlich gemacht, mein kalter Kräutertee steht in Griffnähe. Lewinsky fesselt mich von Anfang an, er versteht sein Handwerk. Nach einem Weilchen spüre ich, wir mir immer wieder die Augen zufallen, eingelullt von den Geräuschen ringsherum. Ich schiebe das Buch beiseite und strecke mich auf der Decke aus.
Ich muss eine Zeit lang geschlummert haben, bis mich etwas in meiner Nähe aufschreckt. Ein munterer schwarzer Pudel, der seinem Ball nachgerannt ist, schaut mich mit seinen Knopfaugen aufmerksam an. Der Ball ist auf meine Decke gerollt, nur wenige Zentimeter von meinem Kopf entfernt. Das Tier getraut sich aber nicht, ihn dort zu holen. Ich werfe ihm den Ball zurück auf die Wiese. Schon springt er hinterher.
Jetzt bin ich wach. Ich drehe mich auf den Rücken und schaue in den Himmel. Alle möglichen Alltagsdinge gehen mir durch den Kopf. Ich höre, wie ein paar Leute in der Nähe begonnen haben, Tischtennis zu spielen. Ping, pong, ping. Unvermittelt schweifen meine Gedanken ab, fliegen zu ihr, auch wenn ich nicht sollte. Mit dem Verstand weiss ich ja, dass ich mich nicht in alten Gefühlen verlieren sollte, aber manchmal überkommt mich immer noch eine grosse Sehnsucht. Sehnsucht nach Laura. Drei, vier Mal haben wir zusammen Tischtennis gespielt und ich war ausser mir vor Glück.
Natürlich habe ich den kleinen Ort in Italien, wo sie jetzt wohnt, gegoogelt und stelle mir vor, wie Laura gerade auf die Veranda ihres Hauses tritt. Sie trägt ein weisses T-Shirt und kurze Hosen. Ihre Arme und Beine sind braun gebrannt. Sie steckt sich eine Zigarette an und setzt sich in den gemütlichen alten Stuhl. Während sie genüsslich raucht, lässt sie ihren Blick über das Meer in der Ferne schweifen. Ich sehe, dass sie ihre lockigen grauen Haare wieder ganz kurz geschnitten hat. Nach der Zigarette holt sie sich ein Buch und eine Tasse Espresso und beginnt zu lesen. In Wirklichkeit weiss ich nicht, wie sie wohnt. Ich male es mir einfach gerne aus.
Manchmal fliegen meine Gedanken auch in der Nacht zu ihr. Ich stelle mir vor, wie sie ruhig schläft und ich sie ungeniert ansehen kann. Wie es wäre, ihr übers Haar zu streichen. Sie sieht im Schlaf so verletzlich aus. So anders, als sie im wachen Zustand manchmal sein konnte: temperamentvoll und kämpferisch.
Es kam wie aus heiterem Himmel, dass ich mich mit über 50 nochmals unsterblich verliebte. Aus heiterem Himmel – so eine blöde Redewendung, aber sie passte genau zu meiner Situation. Ich verliebte mich abgrundtief. Mein Leben war klar, ich war zufrieden mit meinem Job und meiner Ehe mit Helena. Wir teilten viele Interessen, waren immer noch gerne zusammen unterwegs. Natürlich waren wir als Paar nicht mehr so eng verbunden wie in den ersten Jahren. Und dann passierte es und riss mich in einen Strudel von Gefühlen, von denen ich nichts geahnt hatte.
Laura und ich hatten in einem Team schon ein paar Jahre zusammengearbeitet. Sie war eine eigenwillige, manchmal schwierige Person. Mal brutal hart, oft ehrlich, mal wieder ein guter Kumpel. Wir hatten am Anfang einige Konflikte miteinander, aber mit der Zeit verstanden wir uns immer besser und konnten oft miteinander lachen. Ich bewunderte ihre Selbstsicherheit, ihre direkte Art. Plötzlich war es da, das unglaubliche Gefühl. Passierte mir dies wirklich? Wenn sie in der Nähe war, gab es pure Momente des Glücks. Ihre Nähe wurde aber auch verwirrend, aufwühlend, liess mich auf der Stelle zum Teenager werden, der jede Geste, jedes Wort der geliebten Person im Kopf behält und alle Erinnerungen fleissig sammelt. So kam eine unglaubliche Schatztruhe von Gefühlen zusammen, in denen ich regelmässig wühlte. Dass ich meine Unbefangenheit verlor, spürte sie schnell. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und liess sie wissen, was ich für sie empfand. Das machte das Ganze nicht gerade einfacher. Sie reagierte abwechslungsweise mit kalter Distanz oder mit lockerer Unbefangenheit, wohl in der Hoffnung, dass meine Gefühle irgendwann vorbeigehen würden. Sie gingen aber nicht vorbei. Klar wusste ich, dass diese Liebe keine Chance hatte. Nicht nur meine eigene Beziehung stand dazwischen, nein sie selbst hatte eine Beziehung zu einer Frau. Aussichtslos.
Mein Leben erhielt eine ganz neue Dimension. Ich fühlte mich wieder jung. Sie nur schon von weitem zu sehen oder zu hören machte mich nervös und glücklich zugleich. Da es in meinem Kopf nur noch diese Geschichte gab, schrieb ich wieder Gedichte und Tagebuch wie früher als Teenager. Ich musste mir alles von der Seele reden, ich weihte Freunde ein und konnte nie genug davon bekommen, über sie und über das, was mir passierte, zu sprechen. Meiner Frau konnte ich nichts davon erzählen, das Ganze wühlte mich zu stark auf. Aber ich mochte das Gefühl um keinen Preis missen, auch wenn es ab und zu schmerzhaft war. Lieber für immer und ewig hin- und hergerissen zwischen Sehnsucht und Verzweiflung als die Vorstellung, die geliebte Person könnte eines Tages nicht mehr da sein.
Und doch passierte es. Sie kündigte Ihre Stellung, um in Italien etwas Neues aufzubauen. Ich konnte es nicht glauben. Wie sollte ich überleben ohne ihr Lachen. Ich brauchte unglaublich viel Zeit, bis ich einigermassen darüber hinwegzukommen war. Mit der Zeit musste ich die Schätze in meiner Schatztruhe nicht mehr jeden Tag anschauen. Mit der Zeit versiegten die Gedichte und Tagebucheinträge. Meine Gedanken drehten sich seltener um Laura.
Zurückgeblieben ist eine feine Melancholie und eine grosse Dankbarkeit. Aber auch jetzt noch lasse ich mich ab und zu dazu hinreissen, in Gedanken zu ihr zu fliegen. Und ich weiss echt nicht, was wäre, wenn ich sie wiedersähe …
(Version 2)