Von Loreen Thormann

Der Schultag ist fast geschafft, aber der schlimmste Teil liegt noch vor mir. Jeden Dienstag in der siebten Stunde zwinge ich mich in die Sportklamotten. Derzeit steht1 Leichtathletik auf dem Programm und darin bin ich eine totale Niete. Auch wenn ich ganz und gar nicht unsportlich aussehe, bin ich auf diesem Gebiet doch ein hoffnungsloser Fall. Schon im Anschluss der sechsten Klasse hatte ich das Gefühl, alle anderen wären einen Kopf größer als ich. Das Gen habe ich wohl von Mama. Nachdenklich stehe ich in der Umkleidekabine. Ich atme tief durch und versuche vergeblich mir die Schuhe zu binden. Vor Nervosität und der Angst zu versagen, zittern meine Finger. Während einige meine Mitschülerinnen selbstbewusst mit ihren langen Beinen und trainierten Oberarmen an mir vorbeigehen, möchte ich mich an liebsten schnell verstecken.

Bei dem Gedanken an die bevorstehende Leichtathletik Stunde, steigen in mir die Tränen auf. Es ist, als wäre ich in einem Albtraum gefangen. Es gibt nicht eine einzige Disziplin, in der ich wenigsten etwas Punkten kann.

Beim Weitsprung kommt mir der Sand eher entgegen, als geplant. Beim Hochsprung befindet sich der Stab über meinen Kopf und anstatt hinüber zu springen, schlüpfe ich darunter durch. Beim Sprint wird mir aus dem Ziel schon zugewinkt und ich besuche gefühlte tausend Schrie länger.  

 

Also mit Talent kann ich im Sport echt nicht punkten. Aber anscheinend soll das Leben sowieso nicht fair sein. Denn im Musikunterricht sieht es genau so mau aus. Sobald ein Ton aus meiner Kehle erklingt, versucht jeder voller Eifer, seine Ohren mit dem Händen von diesem Klang zu isolieren. Krächzend und schief gebe ich Lieder zum Besten.

Meine Erwartungen auf künstlerischer Ebene zu überzeugen, gab ich ebenso schnell auf. Die Farben auf meinen Bildern wollen nicht zusammen passen. Der Pinsel führt ein Eigenleben und Hunde mit Schweinenasen oder Pferde mit Katzenbeinen entstehen auf dem Papier. Selbst Blumen und Sterne werden von Grundschülern schöner gezeichnet.

Außerdem haben sich mir weder eine sprach- noch eine naturwissenschaftliche Begabung offenbart. Der Notendurchschnitt lässt demnach überall zu wünschen übrig.

Wie kann man so Talentfrei sein? Dabei gebe ich mir so viel Mühe. Dieses Urteil ist schon ganz schön übertrieben, aber irgendwie liegt darin schon viel Wahrheit.

 

Aus meinen Gedanken erwacht, mache ich mich auf den Weg ins Stadion. Hier werden alle Schüler vom Gymnasium unterrichtet, da es zu Fuß in nur fünf Minuten zu erreichen ist. Das Wetter ist wunderschön und die anderen Zwölftklässler warten schon.

Als die Stunde vorbei ist, begeben sich alle nach Hause. Nur ich bleibe traurig im Stadion zurück. Verschwitzt und erschöpft sehr ich zu Boden. Wie sehr ich mir doch wünschen würde, etwas fantastisch zu können. Wäre ich nicht so klein und ungeschickt, würde mir Leichtathletik vielleicht gar nicht so schwer fallen. Oder sollte ich mehr üben?

Ein Bild macht sich in meinen Kopf breit. Beim Weitsprung fliege ich förmlich über die Grube hinweg. Beim Hochsprung sehe ich aus, als hätte ich Sprungfedern unter den Sohlen. Beim Sprint bin ich leichtfüßig und schnell wie ein Blitz.

Urplötzlich fasse ich einen Entschluss. Ich stehe auf und sage laut: „Ich werde so lange üben, bis dies zur Realität wird.“

Zu Hause angekommen entwerfe ich einen Plan. Das ist gar nicht so einfach, wenn man das noch nie gemacht hat. Was da so alles beschert werden muss. Im Internet finde ich schließlich viele tolle Hinweise. Dabei stoße ich auf Sportlerinnen, die auch nicht 1,90 m groß sind und sich mit aller Kraft an die obere Spitze gekämpft haben. Das will ich schaffen!

 

Zwei Monate sind bisher vergangen und vier Mal die Woche gehe ich trainieren. Sogar meine Ernährung habe ich etwas umgestellt, um größere Effekte zu erzielen. Eine kleine Veränderung kann man wirklich sehen und auch mein Sportlehrer lobt mich mittlerweile oft. Aber das Potential wird bei meiner Größe irgendwann ausgeschöpft sein.

 

Auch heute blieb ich wieder etwas länger nach dem Unterricht. Plötzlich liegt da ein Zettel auf meiner Sporttasche. In säuberlicher Schrift steht darauf: „Dein Fleiß soll belohnt werden“. Ich drehe mich im Kreis, aber Niemand ist zu sehen. Zögerlich stecke ich die Notiz weg. Verwirrt packe ich meine Sachen, um die Straßenbahn nach Hause zu schaffen.

Nach dem Abendbrot krieche ich müde ins Bett und schlafe auf der Stelle ein.

 

Am nächsten morgen spüre ich ein eigenartiges Kribbeln in meinen Füßen und fühle mich sehr seltsam, aber auf eine gute Art und Weise. In der Schule heute bin ich sehr ungeduldig. Meine Füße wippen unentwegt und das Gefühl von Vorfreude auf den Nachmittag lenkt mich vom Unterricht ab. Etwas in mir hat sich über Nacht verändert. Wenn ich nur wüsste, was es ist. Sicher werde ich beim Training heute in Stadion den Kopf frei bekommen.

 

Die Haare ordentlich zusammen gebunden und Schuhe fest verschnürt nehme ich Anlauf, um Weitsprung zu üben. Doch was ist das? Mit einem Mal, beginne ich zu fliegen, wirklich zu fliegen! Ich rudere wild mit den Armen in der Luft. Meine Gedanken beruhigen sich. Langsam sinke ich wieder zu Boden. Wie kann das sein? Träume ich?

Konzentriert sehe auf meine Füße hinab. Eine Sekunde später, spüre ich, wie sie sich vom sicheren Untergrund entfernen. Es ist tatsächlich wahr, ich kann fliegen!

 

Im Laufe der Stunden lerne ich, diese neue Begabung zu kontrollieren. Auch wenn ein paar Schürfwunden am Knie meine Fehlversuchen repräsentieren. Nun versuche ich sie direkt einzusetzen. Beim Sprint und Hürdenlauf fühle ich die Welt an mir vorbeiziehen. Meine Füße berühren das Tartan kaum. Als ich mich am Hochsprung versuche, habe ich das Gefühl, dass sich unsichtbare Federn unter meinen Sohlen befinden. Danach stelle ich im Weitsprung neue Rekorde auf.

 

Nachdenklich liege ich auf der Ziellinie. Innerlich hatte ich schon längst einen neuen Entschluss gefasst. Dies wird mein Geheimnis bleiben! Die Vorstellung, über die höchsten Häuser zu gleiten, ist nichts im Vergleich zu meinen jetzigen Gedanken.

Mein Ziel ist Olympia. Eine erfolgreiche Karriere als eine der bekanntesten Sportlerinnen! Weltrekorde und Menschenmengen, die mir zujubeln!

Das muss meine Bestimmung sein. Die Welt zieht an mir vorbei und nie fühlte ich mich als ein Teil von ihr. Alle meine Mitmenschen verfolgen ihre Ziele, doch ich war verloren in einem Strudel. Nun hat sich eine Richtung mit offenbart.

Das schlechte Gewissen und anfängliche Gewissensbisse schiebe ich konsequent beiseite. „Es ist kein Schummelei, sondern Nutzen meines Talents“, rede ich mir ein.