Von Gerlinde Ullmann

Fliegen zu können ist mein ältester Traum. Es ist Nacht und niemand ist auf der Straße. Die Straße, in der ich wohne, ist eine gerade Straße, links und rechts Häuser. Und ich fliege. Aber ich fliege nicht einfach so – ich springe mit Siebenmeilen-Stiefeln die Straße hinunter und je mehr ich springe, desto höher fliege ich. Und dann – hebe ich ab. Ich fliege, breite meine Arme aus, vertraue dem Strom, der mich trägt und fliege über die Straße hinweg. Mitten in die Nacht hinein. Es fühlt sich herrlich an. Endlich frei!

Die Träume der Kindheit sagen viel über uns aus. Als Kind habe ich oft von einem Fluss geträumt, der in Wahrheit, im wirklichen Leben, eher ein Bach war. Dieser Bach war dem Haus meiner Kindheit ganz nah, umgeben von einem Park. Und in diesem Bach – im Traum ein Fluss –lag ein Krokodil.

Das war meine Mutter.

In späteren Jahren hat mir eine Psychologin gezeigt, wie sie mit Kindern arbeitet. Plastiktiere auf einem Bauernhof. Die Kinder sollten so ihre Familie darstellen. „Die Kinder wählen meist eine Kuh oder ein Schaf als Mutter. Diese Tiere stehen für Mütterlichkeit. Weich, warm und nährend.“

Aha, dachte ich. Meine Mutter war ein Krokodil. Was hätte die Therapeutin dazu wohl gesagt? Ein Kind, das in ihre schöne, heile Plastikwelt ein Krokodil hineinsetzt.

Aber das hätte ich natürlich nicht getan. Ich war ein stilles Kind. Eines von denen, die funktionieren. Die keine Probleme machen, alles mit sich selbst austragen.

Hätte es daher zu meiner Zeit bereits so einen Bauernhof gegeben – oder wäre ich in die Fänge einer Schulpsychologin geraten – hätte ich ihr ganz sicher die Version vorgesetzt, die sie hören – oder besser sehen – wollte. Ich war eines der Kinder, die sich nur im Traum erheben, um frei zu sein, davon zu fliegen.

Was hat sie mir gebracht, die Fliegerei? Noch heute träume ich ab und zu diesen Traum. Genieße ihn. Noch heute träume ich davon, mich des Nachts hoch zu schwingen, aufzumachen, frei zu sein. Still und leise, von allen unbemerkt.

Könnte ich fliegen, würde ich es erzählen? Nie und nimmer. Ich würde mich des Nachts still und leise davon stehlen und mich – davon gehe ich aus – jenseits von Zeit und Raum bewegen. Ich würde das Mittelalter bereisen, nachsehen, ob auch ich eine Hexe war, die verbrannt wurde – eine von den weisen Frauen, denen es zu allen Zeiten untersagt war, sich zu erheben, die Welt fliegend – mit oder ohne Besen – zu erkunden und sie ein kleines Stückchen besser zu machen.

Und ich würde in die Zukunft reisen. Sehen, ob alles gut ausgeht. Voll Angst vor dem, was ich entdecken könnte.

Ist es gut, keinen Einfluss nehmen zu können? Gut, in der Stunde unserer Geburt die Vergangenheit – so es sie gegeben hat – zu vergessen? Gut, nicht zu wissen und niemals erfahren zu können, was uns die Zukunft bringt?

Fliegen können hätte für mich nur dann einen Sinn, wenn ich Raum und Zeit hinter mir lassen könnte. Ich habe kein Interesse daran, des Nachts meine Nachbarn zu beobachten. Kein Interesse, mich wichtig und „besonders“ zu fühlen.

Aber die stille Freude, die das Fliegen mit sich bringt, die würde ich gerne auskosten. In einer Nacht die halbe Welt erkunden. Vergangenen Seelen in längst vergangenen Zeiten einen Besuch abstatten.

Würde ich eingreifen wollen, in die Vergangenheit? Alles besser machen? Meine Mutter davor bewahren, ein Krokodil zu werden? Wäre das gut? Oder würde es ihr und uns die Chance nehmen, zu werden, uns zu entwickeln und zu wachsen?

Oder doch lieber in die Zukunft fliegen? Sehen können, was aus den Kindern von heute wird, wer sie sind, wenn sie alt und grau werden?

Nein. Die Zukunft bliebe unangetastet. Zu groß ist die Angst vor dem, was ich sehen könnte.

Aber die Vergangenheit zu besuchen, Mittelalter, Barock, das 20. Jahrhundert, das wäre schön.

Welche Erkenntnis würde ich mitnehmen? Dass es gut ist, nicht fliegen zu können? Nur im Traum diese Möglichkeit zu haben? Oder doch Trauer, eine leise Wehmut darüber, sich nicht erheben zu können, hier auf Erden gefesselt zu sein, bis ans Ende aller Tage?

Möchte ich im nächsten Leben ein Vogel sein?

Nein. Definitiv nicht. Ich glaube, ich bin doch ein Erdenwesen. Ein Erdenwesen, ein Säugetier, ein bedürftig Kind, eine weise alte Frau. Die sich ihren Traum erhält.

Den Traum, der zurück führt, in eine lange vergangene Zeit, als Bäche noch Flüsse, Mütter noch Krokodile und am Leben waren.