Von Antje Bremer

Ich erinnere mich noch genau, wie das begann, die Sache mit dem Fliegen. Es war in dem Jahr, als der Neue an unsere Schule kam, der Junge mit den flammenden Augen und den harten Fäusten. Gleich am ersten Tag knöpfte er mir mein Schulbrot ab. Ich wehrte mich nicht, denn er war einer dieser Riesen aus der Oberstufe, die schon viel zu erwachsen wirkten mit ihren Bartstoppeln und Raspelstimmen. Ich kleines Streichholz war ein leichtes Opfer, und das wussten wir beide. Jeden Tag lauerte er mir irgendwo auf, schubste mich gegen die nächstbeste Mauer und verlangte mein Pausenbrot. Ich hatte schreckliche Angst vor ihm, rannte stets davon, wenn ich ihn sah, doch er holte mich meistens ein. Nachts hatte ich Albträume von einem haushohen Titan, der mich mit Sieben-Meilen-Stiefeln verfolgte; und manchmal hatte ich feuchte Träume von flammenden Augen und ruppigen Fäusten, die mich gegen eine Wand drückten. Das war mir so peinlich, dass ich niemandem davon erzählte.

Eines Tages vergaß ich mein Pausenbrot zu Hause. Ich fürchtete, der Neue würde mich zu Brei schlagen, deshalb rannte ich an diesem Tag so schnell davon, wie ich noch nie zuvor gerannt war. Ich weiß nicht, wie ich es schaffte, aber plötzlich saß ich oben auf dem Schuldach und der Riese schüttelte hilflos seine Fäuste in meine Richtung, denn Riesen können bekanntlich nicht klettern. Aber ich konnte eigentlich auch nicht klettern, also wie…?

„Du bist geflogen“, sagte eine vertraute Stimme hinter mir. Vor Schreck rutschte ich fast über die Dachkante. Der Geist meiner verstorbenen Schwester Morrigan saß halbtransparent und beinebaumelnd auf dem Schornstein. Aus ihren Schulterblättern sprossen rabenschwarze Flügel. „Ich habe dir die Fähigkeit gegeben, zu fliegen. Komm, ich zeig es dir.“

Lächelnd packte sie mich mit einer kalten Hand am Arm und zog mich über die Dachkante. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Augen zu schließen und zu hoffen, dass ich den Aufprall nicht spüren würde. Typisches Szenario: Schüchterner Einzelgänger wird an der Schule gepiesackt und springt in den Tod. So alltäglich, dass ich froh sein konnte, wenn ich es in die Regionalnachrichten schaffte. Doch es kam kein Aufprall. „Siehst du, du fliegst!“, rief meine Schwester und ließ meine Hand los. „Jetzt musst du dem Idioten nie wieder dein Schulbrot geben!“

„Morrigan, das ist echt cool, aber ist dies nicht nur ein Traum?“

„Du wirst schon sehen. Hier, nimm das.“ Sie drückte mir eine schwarze Feder in die Hand. „So lange du die bei dir trägst, bist du unsichtbar. Also erkunde ein bisschen die Lüfte!“

„Kommst du mit mir?“, fragte ich hoffnungsvoll.

Sie schüttelte den Kopf und wurde immer durchsichtiger. „Nein, ich muss jetzt gehen. Ich sollte gar nicht hier sein. Und denk daran, Bruderherz: Du darfst niemals zu hoch hinaus fliegen. Niemals, hörst du?“

Schon war ich wieder allein. Betrübt betrachtete ich die schwarze Feder in meiner Hand; doch dann befolgte ich Morrigans Rat und drehte meine erste Flugrunde. Bald war meine Trübsal fort, denn das Fliegen durchströmte mich mit einem so intensiven Glücksgefühl, dass ich alles andere vergaß. Dann sah ich den Riesen. Er stand vor einem Süßigkeitenautomat und kippte sein gesamtes Geld hinein. Doch es reichte noch nicht einmal für die billigen Fruchtgummis. Die Schüler in der Schlange hinter ihm murrten ungeduldig, als er die Münzen wieder einsammelte. Mit wütend knurrendem Magen trat er ans Fenster und starrte hinaus, die Riesenfäuste geballt, das Stoppelkinn vorgereckt, die griechisch gerade Nase stur in die Ferne weisend, als wäre er lieber ganz woanders. Er blickte genau in mein Gesicht. Obwohl er mich nicht sehen konnte, stockte mein Atem, als seine Augen sich wie glühende Sonnen in meine bohrten. Er sah aus wie eine Statue von Alexander dem Großen, die ich einmal in meinem Geschichtslehrbuch gesehen hatte: Stolz, hart und unnachgiebig wie Marmor.

Ich erwachte in meinem Bett. Meine Mutter sagte, wenn man vom Fliegen träumt, bedeutet das, dass man sein Leben ändern will oder dass man sich nach sexueller Ekstase sehnt. Sie ist Psychologin, aber ich wollte trotzdem nicht mit ihr über sexuelle Ekstase reden. Und ich verschwieg ihr auch, dass die schwarze Feder noch immer in meiner Hosentasche steckte, dass es also kein Traum gewesen war. An diesem Tag nahm ich zwei Schulbrote mit und wartete am Schultor auf Alexander den Großen. Ich wollte vor Angst am liebsten weglaufen, als ich ihm kommen sah, doch stattdessen streckte ich ihm ein Schulbrot entgegen. „Das ist für dich, Alex“, sagte ich.

„Alex?“

„Alexander der Große. Ich weiß ja deinen Namen nicht.“

Zum ersten Mal sah ich ihn lächeln. „Der Name ist gut. Danke, Kleiner.“ Er steckte das Brot ein und wuschelte mir durch die Haare. Ich war mir nicht sicher, ob er das ernst oder sarkastisch meinte – mein Magen flatterte jedenfalls so sehr, dass ich fürchtete, abzuheben. Sobald Alex außer Sichtweite war, nahm ich die schwarze Feder in die Hand und flog vor Freude dreimal um die Schule. Von nun an brachte ich immer zwei Brote mit. Dann sagte ich „Hey, Alex“ und er sagte „Hey, Kurzer“ und ich gab ihm ein Brot. Es war stets das Highlight meines Tages. Alex‘ zigarettenstummelschnippenden Klassenkameraden, von denen die Hälfte cool war und die andere Hälfte cool sein wollte, machten sich darüber lustig, doch Alex war das egal, also war es mir auch egal.

Eines Tages jedoch wirkte Alex so niedergeschlagen, dass er ganz blass und krank aussah. Er sagte mir nicht, was los war, also verfolgte ich ihn abends nach Hause. Vor einem baufälligen Einfamilienhaus machte er Halt, zögerte, trat schließlich ein. Kurz darauf hörte ich das Geschrei seiner Mutter, welches mir das Blut in den Adern gefrieren ließ: „Du verdammter Nichtsnutz! Das ist schon die dritte Fünf in diesem Schuljahr! Wenn du noch eine einzige Fünf nach Hause bringst, wechselst du die Schule!“

Alex trampelte eine Treppe hoch, dann ging im ersten Stock das Licht an und erhellte ein winziges Zimmer, in dem mein Riese wie in einer Puppenstube eingesperrt wirkte. Er schloss die Tür ab, warf sich aufs Bett und vergrub das Gesicht im Kissen. Als ich glaubte, dass er eingeschlafen war, schlüpfte ich durch sein angelehntes Fenster. Ich war versucht, seine dunklen Locken zu berühren, doch ich riss mich zusammen und stöberte stattdessen durch seine Schulsachen. Er hatte eine Fünf in Mathe, Geschichte und Physik, und in drei Tagen stand eine benotete Hausaufgabenkontrolle in Geschichte an. Mir fiel ein Stein vom Herzen: In Geschichte war ich ein Ass. Ich notierte mir die Hausaufgabe, die ich innerhalb der nächsten Tage lösen und ihm unauffällig zustecken würde. Als ich gehen wollte, stellte ich fest, dass Alex sich auf den Rücken gedreht hatte. Seine leicht geöffneten, apfelroten Lippen lockten mich so unwiderstehlich, dass ich mich nicht länger beherrschen konnte und mich über ihn beugte.

„Psst!“, zischte eine Stimme. Vor Schreck schrie ich beinah auf. Meine Schwester saß auf der Fensterbank und schüttelte missbilligend den Kopf. Tausend Feuerameisen krabbelten in meine Wangen. „Du verstehst das nicht, Morrigan.“

Sie nickte und ihre Gesichtszüge wurden weicher – was aber auch daran liegen konnte, dass sie schon wieder verschwand. „Bitte pass auf dich auf, Bruderherz. Ich sagte doch, flieg nicht zu hoch hinaus. Niemals.“

„Aber wir sind doch nur im ersten Stock…“ Meine Stimme verhallte im leeren Raum – ich war wieder mit Alex allein. Bevor seine paradiesischen Apfellippen mich nochmal anlocken konnten, flog ich in die Nacht hinaus.

Ich erledigte die Hausaufgabe so sorgfältig, dass ich in Zeitverzug geriet. Erst am letzten Tag vor dem Abgabetermin war ich fertig. Nach der Schule verfolgte ich wieder Alex, um sie ihm heimlich unterzuschieben – doch er war nicht allein. Neben ihm lief eine blonde Schönheitskönigin, deren Namen ich nicht genau verstand, Ramona oder Pandora. Pandora, das schöne Übel. Sie gingen zu ihr nach Hause und fuhren in einem gläsernen Fahrstuhl hinauf in eine Penthouse-Wohnung. Ich wusste, dass menschlicher Anstand und Morrigans Warnung mich davon abhalten sollten, ihnen nachzuspionieren, doch das war mir egal. Ich flog höher, bis mir kalter Wind in den Ohren pfiff, Stockwerk um Stockwerk den roten Wolken entgegen, als würde ich geradewegs in den blutenden Himmel fallen.

Und dann sah ich die beiden, an ein Fenster gelehnt, nur durch eine dünne Glasscheibe vom Abgrund getrennt. Alex küsste Pandora. In diesem Moment verschwanden alle Farben aus der Welt. Morrigans Feder glitt aus meinen tauben Fingern, wurde vom Wind davongetragen. Da starrte Alex mich plötzlich an – ich war wieder sichtbar. Das Entsetzen auf seinem Gesicht spiegelte mein eigenes Entsetzen wider, jedoch spürte er bestimmt nicht denselben Schmerz, der in diesem Moment meine Flügel zerriss. Den Schmerz, der die Schwerkraft wieder an meine Beine fesselte und mir die Kraft zu fliegen nahm. Morrigan hatte recht gehabt: Ich war zu hoch geflogen. Und nun stürzte ich in den Abgrund, wie Ikarus, der sich an der Sonne verbrannt hatte.

Von diesem Tag an habe ich mich nie wieder in die Lüfte erhoben. Jahre verstrichen, während mein gebrochenes Herz mich an den Boden kettete. Ich vergaß das Hochgefühl des Fliegens, war wieder eine Schildkröte wie alle anderen, die, niedergedrückt von ihrem Panzer, im Staub kriechen musste.

Doch kürzlich geschah etwas, das alles veränderte. Es kam wieder ein Neuer an die Schule, ein sanfter Riese mit himmelblauen Augen; und als sich unsere Blicke kreuzten, schenkte er mir ein sterneblitzendes Lächeln. Da begann mein Magen wieder zu flattern wie ein Vogel im Käfig. Ich erschrak, denn ich hatte dieses alte Gefühl längst beerdigt geglaubt und wollte eigentlich nicht mehr fliegen, denn mittlerweile hatte ich Höhenangst. Aber vielleicht gibt es doch noch Hoffnung. Vielleicht werde ich eines Tages wieder fliegen können.