Von Joy Sophie Fiest 

Was würdet ihr tun, wenn ihr fliegen könntet? Hättet ihr den Mut frei zu sein? Fliegen ist Freiheit. Freiheit ist Fliegen. Eure Entscheidung. Eure Verantwortung. Euer Leben. Ich habe mich entschieden, für meine Verantwortung, für mein Leben. Was ist mit euch?

Es war alles weiß. Rein und weiß. Andere Farben gab es hier nicht, zumindest nicht gewollt. Haar und Haut blieben vielleicht farbig, doch im Angesicht zu all dem Weiß waren sie längst verblasst. Viele meinten, das Leben hier sei die Erlösung, das Bestreben der Menschen, doch was war schon Perfektion? So lange war es nur ein Traum, eine Motivation, ein Streben nach dem Unerreichbaren gewesen, doch nun war Perfektion ein definierter Lebensstil, der Körper wie Geist perfekt halten sollte. Wir Menschen, die über den Wolken lebten, wir sollten die perfekten Nachkommen, die Menschen der Zukunft werden. Viele betrachteten das als Ehre, das Privileg eines neuen Lebensstandards. Ich nicht, ich hatte erkannt, was das hier wirklich war – Menschenzucht. Ohne Freiheiten.

Nicht das man hier nichts machen konnte – im Gegenteil, es gab alles Erdenkliche um Körper und Geist zu fördern, aber die Freiheit, die ich meine, war etwas anderes.

Ich spreche hier von einer Freiheit, die weiter geht, als bis zu der Entscheidung, was man als nächstes tat. Ich meine diese Freiheit, die von sich selbst lebt – eine Unabhängigkeit, Selbstständigkeit, eine eigene Art zu Leben.  Zu Denken. Zu Wünschen. Diese Art von Freiheit meine ich. Die Echte.

Eine makellos weiße Tür zu meiner Linken öffnete sich, eine etwas ältere Frau, mit strengen Gesichtszügen und grauen Augen, trat herein. Die Tür schloss sich hinter ihr, sie blieb kurz stehen musterte mich eindringlich, und setzte sich dann auf einen Stuhl mir gegenüber. Auch ich saß, der Unterschied: Ich war angekettet.

Die Frau, die ganz offensichtlich eine leitende Wärterin war, blätterte noch einen Augenblick durch irgendwelche Papiere, hob dann den Blick und nagelte mich damit fest.

„Was haben sie sich dabei gedacht, Mr J14?“

Ich schwieg. Die Antwort konnte sie sich selbst geben.

„Mr! Ich bitte sie dringend zu antworten, ansonsten fühle ich gezwungen, das Sicherheitspersonal zu benachrichtigen, und wie sie bereits wissen, arbeiten die mit mehr als nur Worten!“

Ich ließ mich nicht beeindrucken.

„Ihr Anzug sieht ein bisschen grau aus, Ms.“

Sie lehnte sich vor, und presste dabei die Lippen zusammen.

„Äußern sie sich zu meiner Frage. Warum haben sie versucht Selbstmord zu begehen?“

„Selbstmord? Sind sie denn des Wahnsinns?“ Ich lehnte mich zurück.

„Ich wollte bloß springen.“

Ich beobachtete eine faszinierende Mischung von Stirnrunzeln und Augenbrauen-Hochziehen.

„Von der Aussichtsplattform eines Wolkenkratzers von dem Sie nicht einmal genau wissen wie hoch er ist? Ich bitte sie, es ist ja wohl offensichtlich, dass das auf das gleiche hinausläuft.“

Ein Wolkenkratzer? Also hatten wir Verbindung zum Boden? Vielleicht könnte ich… Nein, durch das Gebäude hindurch war es unmöglich auf den Erdboden zu gelangen. Zu viele Menschen. Zu viele Barrikaden, Sicherheitsmaßnahmen. Springen blieb die einzige Möglichkeit. Die letzte Hoffnung.

Alles war besser als das hier. Und wenn ich alles sagte, meinte ich auch alles.

„Also?“, langsam wurde die Dame ungeduldig, „Warum wollten sie springen?“

„Waren sie schon mal auf dem Erdboden?“, fragte ich zurück.

Die Frage schien sie aus der Fassung zu bringen.

„Selbstverständlich nicht! Niemand wäre heutzutage so töricht dorthin zu gehen, vielleicht in ein-, zweihundert Jahren – aber jetzt? Auf gar keinen Fall, die Erde muss sich erholen, und solange widmen wir uns der Aufgabe den perfekten Gencode zu finden.“

Ein strenger Blick.

„Ihnen ist doch klar, dass die Entdeckung dieses Codes bedeuten würde, dass die Menschheit nie wieder leiden müsste? Jeder Mensch der Zukunft würde perfekte DNS in sich tragen, wir würden –„

„fast ewig leben, und die Erde vollkommen, nein, verzeihen sie, perfekt zerstören! Überlegen sie doch mal selbst, was ihr Plan für Folgen hätte!“

„Bitte, bitte. Beruhigen sie sich. Ihre Argumentationen beweisen doch nur, dass sie irgendeine unvorteilhafte Mutation in sich tragen… es sei denn…“

Plötzlich guckte sie ganz verwirrt, senkte den Kopf, und blätterte in ihren Akten.

„Wie wollen sie perfekte Gene erkennen, Ms? Letztendlich werden sie sie mit Fehlern und dergleichen verwechseln, weil sie nicht mal wissen, was Perfektion überhaupt ist.“

Sie wurde rot.

„Perfektion ist das ausgeglichenste Zusammenspiel von Körper und Geist zum Höchstleistungszustand.“

Ich schenkte ihr mein fiesestes Lächeln.

„Eben nicht. Absolute Perfektion wäre absolute Balance. Ein Gleichgewicht, das sich aufgehoben hat. Und wissen Sie was dann übrig bliebe? Nichts! Eher weniger erstrebenswert. Was sie suchen, also Perfektion im lebendigen Sinne, sind die richtigen Fehler! Denken sie da mal schön drüber nach – und vermissen sie mich nicht! Ich werde nämlich niemanden vermissen – ich werde in die Zukunft gehen! Und nie wieder zurückdenken! Mir Freiheit nehmen! Fliegen! Euch alle-“

Das Ordnungspersonal unterbrach mein Gezeter, erstickte es mit einem Knebel. Ich versuchte hindurch zu schreien. Man löste die Ketten, ich schlug  und wand mich. Sie brachten mich ein Stockwerk tiefer. Wohin auch immer sie mit mir wollten, es konnte nur schlecht für mich sein. Ich biss dem mich Tragenden mit aller Kraft in die Hand, schmeckte Blut, hörte seinen zornerfüllten Aufschrei, spürte Luft um mich sausen. Ich schlug hart auf. Keine Zeit sich zu sammeln! Irgendwie schaffte ich es auf die Füße zu kommen, rasselnde Handschellen, erstickte Schreie. Los! Ich rannte, trotz der unzureichend verheilten Schusswunden, Erinnerungen an den letzten Fluchtversuch. Der Schmerz hatte mich besiegt. Diesmal nicht. So nah dran! Neuer Schmerz, diesmal würde ich siegen! Ich biss auf den Knebel. Adrenalin! Schneller! Ich warf mich durch eine Tür – und fand mich im Speisesaal wieder. Dutzende von Menschen, ahnungslos, gedankenlos, unbekümmert, blind. Mein Blick fand das Fenster, den meterbreiten Sims dahinter, Schutz vor dem Blick nach unten. Ich stolperte weiter, durch die Menschen. Immer Richtung Fenster. Den Blick auf das Ziel!

„Warte!“

Jemand hielt mich fest. Ich wirbelte kampfbereit herum. Ein Mädchen. Gewelltes rot-goldenes Haar, leuchtend grüne Augen. Von so vielen unterschiedlichen Farben auf einer Person wurde mir schwindelig. Vielleicht auch aus Erschöpfung. Seit dem letzten Fluchtversuch hatte man mich nicht richtig schlafen lassen. Auch das Essen war nicht gut gewesen. Zur Strafe, nehme ich an.

„Was…?“ fragte sie. Ein Klingeln. Ihr Blick, eindringlich, aufrichtig. Vorsichtige Verwirrung.

Die Welt drehte sich um mich. Mein Puls hämmerte von innen auf mich ein. So viele Farben… Ein Husten, Keuchen. Sie erlöste mich von dem Knebel. Ich atmete tief ein, zu schnell, zu wenig Zeit. Ein Countdown. Aber sie schien eine Erklärung zu verdienen. Ein Klingeln bei ihrem Anblick. Ein Klingeln in meinem Kopf.

„Ich… habe eine Hoffnung.“

Sie erstarrte, dieser Blick, wie ein Wiedererkennen. Verblüffung. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, schien es aber nicht zu können. Verwirrt atmete sie aus. Ich verstand.

Mein Blick zuckte zur Tür. Das Sicherheits- wie auch das Ordnungspersonal sprengten hindurch. Suchenden Blicke, die an meiner Gestalt hängenblieben.

Ich raffte mich zusammen. Sah noch mal zu ihr.

„Flieg mit mir.“

Sie starrte mich an, weite Augen, leuchtende Augen, grün wie das Leben – und nickte. Entgegen all meiner Erwartungen. Ein Augenblick der  Übereinstimmung – und weiter. Wir hetzten an die Fensterfront. Menschen flogen, Stühle flogen. Ich verfluchte die Handschellen und trat zu. Immer wieder. Stühle und Tritte. Knacken, klirren, Scherben. Das Sicherheitspersonal war fast da. Ich sah nicht zurück. Hinaus, schnell hinaus, dort waren wir im Vorteil, denn wir hatten keine Angst zu fallen. Sie kletterte zuerst durch den Rahmen, ich folgte. Kein Blick zurück, nur weiter, nur los. Wir waren nah dran. Wir rannten, sie rechts von mir. Stolpernd rennen. Ich sprang zuerst, über die Kante. Ein Moment von Schwerelosigkeit, von Freiheit, ein Gefühl von Glück. Ich flog.

Die Schwerkraft kam zurück, mich drehend sah ich die Kante des Plateaus gen Himmel schwinden. Sie war kurz nach mir gesprungen, flog über mir. Schüsse fielen. Sie zielten immer auf die Beine, doch es war zu spät. Wir flogen.

Geschafft! Befreit! Ein Lächeln. Ein Lachen. Ströme von Glück und Erleichterung. Wir flogen. Ich erreichte ihre Hand, zitternd und warm.

Wir konnten uns nur anstarren.

„ Ich bin… Fourteen, und du?“

Sie lächelte. Wirbelnde Haarsträhnen in ihrem Gesicht. Eine unerklärliche Vertrautheit.

„Thirteen“, flüsterte sie. Der Wind verschluckte ihre Stimme beinahe, doch ich spürte den Namen resonant in mir nachhallen. Eine Vertrautheit. Wir flogen gemeinsam.

„Ohne dich hätte ich es nicht geschafft – danke.“ Meine Stimme kaum mehr als ein Wispern durch den Gesang der freien Luft.

Sie drückte meine Hand.

„Ich danke dir. Allein… hätte ich mich nie getraut. Ich wäre dort oben gestorben. Doch jetzt – ist es vorbei!“

Ich nickte.

„Es ist vorbei.“

Ein vorherrschender, erfüllender Gedanke. Es war vorbei. Wir flogen schweigend. Wir flogen frei.

„Wo wir wohl landen?“

Ich suchte in ihrer Stimme nach Angst, doch sie sprach frei davon.

„Ich weiß nicht, aber… solange wir nicht auf dem harten Boden der Realität aufschlagen, haben wir Raum von Zukunft zu träumen. Realität ist nicht universal. Sie ist subjektiv. Sie ist eine Entscheidung. Wir sind frei alles zu tun.“

Ein Wimpernschlag. Ein Lufthauch im starken Wind.

„Mein ganzes Leben dort oben war von fremden Sein dominiert… ich habe mich  in einer Schutzhülle von Fantasie versteckt. Allein. Aber jetzt… jetzt können wir unsere eigene Wahrheit entdecken. Das ist was du meinst, nicht wahr?“

Ich nickte leise. Sie verstand.

Alles würde gut, wir waren der Hölle entronnen. Wir waren auf dem Weg, in etwas Neues, etwas Eigenes. Eine Welt wie sie noch fremd war, wie sie sein sollte, eine Welt – für freie Seelen.