Von Robert Pfeffer

Er stakste den Flur hinunter. Wie so oft schon. Sebastian kannte jeden Knubbel in der Raufaser, wusste, wo an den Handläufen die Stellen waren, die man besser unberührt ließ, auch wenn man noch so mit der Balance rang. Das Linoleum quietschte unter seinen Schuhen. Auf Höhe des Zimmers 405 blickte er immer nach rechts. Manchmal fand sich hier eine Gelegenheit für eine Pause. Wenn Nessi da war und der Stuhl an ihrem Schreibtisch frei.

 

Aber heute saß Herr Bornemann dort. Herr Bornemann war über 80. Der alte Mann im braunen Bademantel saß immer nur mit einer halben Backe auf dem Stuhl, als müsste er ständig bereit sein, um wegzulaufen. Seit Wochen nahm Sebastian sich vor, ihn das zu fragen, hatte sich aber bisher nicht getraut.

 

Er zog weiter. In der 412 diese Woche ein Neuzugang. Melina. Der 14-Jährigen fehlte jede Routine, das erkannte Sebastian in ihrem Gesicht. Zu sehr ängstigte sie diese Umgebung hier. Aber das geht vorbei. Er wusste es, sie noch nicht. Das Mädchen stand am Fenster und sah hinaus. Gleich übermorgen würde er sie fragen, ob sie mit ihm einen Spaziergang machte. Wenn er wieder laufen kann. Hinunter zu Jakob, einer alten Dohle. Jakob konnte kichern, aber erst, nachdem er sich immer dreimal den Schnabel an seinem Lieblingsast wetzte. Dann machte er sich ganz flach und stieß ein kehliges Lachen aus.

 

Das Ende des Flures war jetzt nah. Seine Mutter saß schon in der Aufenthaltszone. Nur noch eine Glastür. Er sah sie, während sie ihn nicht bemerkt hatte. Sie starrte ins Nichts und darüber hinaus. Keinen Ort hasste sie so wie diesen, und doch musste sie immer wieder hier her. Mit dem Ellbogen bediente er den Taster, die große Tür schwang auf. Und dann schaute sie ihn an. In einem Blick von nicht mal zwei Sekunden zerbrach in ihren Augen eine Mauer, schimmerte sanft eine Laterne und peitschte schließlich ein Sturm. Jedes Mal war das so. Dabei sollte sie längst Routine haben, wenn er mit seinen Krücken auf sie zukam.

 

„Mama?“

„Ja, Sebastian.“

„Mama, ich kann seit gestern fliegen.“

„So ein Unsinn. Nur in einem Flugzeug könntest du das. Oder in einem Hubschrauber.“

„Nein, Mama, ich kann wirklich fliegen.“

„Soso. Und wo bist du hingeflogen?“

„Erst mal nur über die Stadt. Aber ich glaube, morgen fliege ich mal ans Meer.“

„Ja, mein Junge. bestimmt. Komm jetzt.“

 

Minuten danach strömte dieses Zeug in ihn hinein. Das alles in ihm vergiftete und ihn doch gesund machen sollte. Das ihm die Sinne nahm und ihn alle drei Tage in einen schier endlosen Kopfschmerz schickte. Das seine Mutter an der Bettkante festhielt, weil er im Dämmerschlaf erbrach.

 

Mittwoch und Samstag waren gut, der Sonntag so etwas wie Freiheit, wenn er draußen sein durfte, den Atem der Welt spüren und Jakob kichern hören. Montage und Donnerstage knebelten und fesselten ihn, sobald er am Ende des Flures angekommen war. Dienstage und Freitage existierten schlichtweg nicht. Für andere vielleicht, nicht für Sebastian.

 

Wochen ging das jetzt so. Seit sechs Monaten war er hier, davor schon drei auf der Kinderstation. Dass Sebastian mit seinen neun Jahren ein Großer sei, das hat der Arzt entschieden, weil er zwei Operationen schon wie ein Mann durchgestanden habe. Sebastians Mutter hätte Doktor Wolf dafür ohrfeigen können, doch selbst ihr war aufgefallen, dass der Junge seitdem seine Narben mit einem gewissen Stolz zeigte.

 

„Und, bist du am Meer gewesen?“

„Ja.“

„Wer hat dir das Fliegen eigentlich beigebracht?“

„Das hab ich mir selbst gezeigt. Du kannst das auch mal versuchen. Einfach Arme ausbreiten und losschweben.“

„Wie bist du darauf gekommen, es zu versuchen?“

„Weil Krebse nicht fliegen können. Meiner dann auch nicht.“

 

Es war dieser Moment, der sie stützen sollte. Der sie aufrecht hielt, wenn er mit ausgebreiteten Krücken auf sie zutorkelte, weil er unbedingt ein paar Schritte ohne schaffen wollte. Der sie noch oft weinen ließ, aber nie fallen.

 

***

 

Es war Besuchstag auf der Station. Sebastian war viele Jahre nicht hier gewesen und seit einigen Monaten doch wieder regelmäßig. Es war ihm ein Bedürfnis. Er streckte seine Hand aus. Zögernd griff Annika nach ihr.

 

„Hallo, Annika. Dich kenne ich noch nicht. Ich bin Sebastian.“

„Du hast aber viele Falten auf der Hand. Wie Opa.“

„Die kommen vom Fliegen.“

„Ich war schon mal in einem Flugzeug. Da kriegt man die aber nicht. Bist du alt?“

„Ein bisschen, ja. Ich meine aber auch nicht das Fliegen in einem Flugzeug, sondern das Selber-Fliegen.“

„Das geht doch gar nicht.“

„Bist du ganz sicher?“

„Ja.“

„Wollen wir es trotzdem mal versuchen?“

„Warum?“

„Weil Krebse nicht fliegen können.“

 

(Version 2)