Von Ruth Kupermann

Salzige Tränen kullerten über ihre Wangen und erwärmten ihr Gesicht. Sie stieß ein Schluchzen aus und man konnte ihren Atem in der Luft sehen. Beziehungsweise konnte sie ihren Atem in der Luft sehen, denn außer ihr stand niemand an den Gleisen. Sie zitterte, und sie wusste nicht, ob es an den Temperaturen oder an ihrer jetzigen Verfassung lag. Es war ein trister Januartag. Eine trostlose Zeit, wie sie fand, in der die letzten Spuren der Feiertage verschwunden waren, die Lichterketten, die Tannenbäume, die leckeren Düfte, alles, kurzgefasst, was zum Fest einlud, war vergangen. Und zurück blieb nur ein starker Windzug, der die Zigarettenstummel vom Boden aufwirbeln ließ.

Hektisch griff sie in ihre Jackentasche und fischte eine Zigarette daraus. Sie versuchte sie mit einem Streichholz anzuzünden, was ihr jedoch aufgrund des starken Windes misslang. Neulich erst hatte sie sich vergegenwärtigt, aus was für unterschiedlichen Beweggründen Menschen rauchten. Sei es stressbedingt oder aus Langeweile, suchtbedingt oder zum Zeitvertreib, um sich zu beruhigen oder um den Moment besser zu genießen, bei ihr war es wohl alles zusammen.

Sie mochte den Bahnhof. An ihm standen einem alle Wege offen. Man konnte seinen Heimatort verlassen und verschwinden, in ein anderes Land oder in eine andere Welt. Man war frei. Frei um zu verreisen, frei um den Freitod zu wählen. Frei. So frei, wie man es selten war.

Sie steckte die Zigarette zurück in die Packung und holte sich ein Taschentuch aus ihrer anderen Seitentasche, um die Tränen wegzuwischen. Warum tat sie das? Es gab doch eh niemanden, der sie beobachtete. Niemanden, außer dem lieben Herrn da oben, an den sie aber nicht glaubte. Dabei hätte ihr der Glaube gewiss Halt geben können. Jedoch hatte sie schon früh gelernt, nur auf sich selbst zu zählen.

Es begann zu hageln. Der seitliche Wind peitschte ihr den Hagel ins Gesicht und sie versuchte, sich unter dem Türrahmen zu verstecken. Das Bahnhofsgebäude hatte schon seit Jahren geschlossen, ein Ticketautomat und ein Snackautomat ersetzten nun das, was ursprünglich die Aufgaben der Bahnhofmitarbeiter gewesen waren. Rationalisierung.

Sie mochte Automaten. Sie waren so anonym, so unpersönlich. Sie schauten einen nicht mit großen Augen an, stellten keine Fragen. Sie werteten nicht. Und sie würden nie ihre Absichten erfahren. Wo Menschen waren, waren auch immer Widersprüche. Und sie konnte nicht gut damit umgehen.

Irgendwann würde sie wieder aufbrechen und nach Hause gehen. Und es würde wieder nichts passieren. Solange der letzte Zug nicht abgefahren war, würde nichts passieren. Sie würde nicht verreisen. Sie würde auch nicht an einen Ort gehen, der mit keinen Transportmitteln zu erreichen wäre. Sie würde einfach zuhause sitzen und dann wieder zum Bahnhof kommen und weinen. Denn für alles andere fehlte ihr der Mut.

Eines Tages würde sie dann zum Bahnhof kommen. Und es würde nicht mehr hageln. Und irgendwoher, sie wusste selbst nicht genau woher, würde dann ein Bediensteter kommen und ihr sagen, dass der Bahnhof für immer geschlossen hätte und keine Züge mehr an ihm hielten. Dann würde sie danken, noch einmal auf die Gleise schauen, sich umdrehen und gehen. Und sich dann einen neuen Ort suchen.