Von Sophia Flörchinger

Ich renne. Die eisige Luft brennt in meiner Lunge, meine Augen brennen, Blut rinnt aus den Furchen meiner aufgeplatzten Fingerknöchel. Ich will weg. Ganz weit weg. Verschwinden für immer. Mir wird schwindelig. Ich lasse mich in den blütenweißen Schnee fallen und schließe die Augen. Mein Herz rattert unregelmäßig, doch es hört nicht auf. Unermüdlich kämpft es gegen die Kälte an. Werde ich die Nacht überleben? Ich kann auf keinen Fall zurück. Nein. Stopp. Ich darf nicht daran denken. Wieder steigen diese Bilder in mir auf. Ich hätte eingreifen müssen. Sie retten müssen. Ich habe versagt. Meine Fingernägel krallen sich in meine nackten Unterschenkel. Ich spüre nichts. Der Schmerz erreicht mich nicht. Ich bekomme Panik. Mein müdes Herz beginnt zu rasen und meine Finger verkrampfen sich. Sie versinken im Fleisch meiner Waden.

Ein Tropfen Blut fällt leise in den Schnee.

Und noch einer.

Ich werde ruhiger.

Die Schreie in meinen Ohren werden immer leiser. Bis nur noch mein rasselnder Atem zu hören ist.

 

In der Ferne hupt ein Auto. Mir wird wieder schwindelig. Immer mehr schwarze Flecken tanzen vor meinen Augen herum. Ich sehe grelle Blitze. Das Rauschen in meinem Ohr wird immer lauter. Dann plötzlich Stille. Ich bin weg.

 

Irgendwann wache ich wieder auf. Mir ist kalt. Ein gleichmäßiges Piepsen dringt in meine Ohren. Der Geruch von Desinfektionsmittel strömt in meine Nase. Vorsichtig wage ich es ein Auge zu öffnen. Ich sehe eine weiße Fläche. Es ist kein Schnee. Ich öffne das zweite Auge. Ich sehe einen Monitor. Daher kommt das Piepsen. Da wird es mir bewusst. Ich bin im Krankenhaus. Wie bin ich hierher gekommen? Panisch hebe ich den Kopf. Über mir hängt ein Beutel mit einer Flüssigkeit. Ein Schlauch verbindet den Beutel mit meiner linken Hand, in der eine dicke Nadel steckt. Nein. Ich will nicht! Schnell packe ich den Schlauch mit der rechten Hand und ziehe daran. Mit einem Ruck löst sich die Nadel und fliegt durch die Luft. Kurz darauf schießt ein Strahl Blut hinterher. Ich beobachte wie sich das sterile weiße Krankenhauszimmer in ein rot gesprenkeltes Schlachtfeld verwandelt. Der Monitor beginnt laut und schnell zu piepsen. Die Tür geht auf und eine pummelige Frau in weißem Kittel stürmt herein. Ohne ein Wort zu sagen, nimmt sie meine Hand und drückt eine dicke weiße Kompresse darauf. So viele Fragen schießen mir durch den Kopf. Aber sie finden nicht den Weg über meine trockenen Lippen. Angestrengt versuche ich nachzudenken. Aber ich bin so müde. Und mir ist kalt. Mein Gehirn fühlt sich an als wäre es eingefroren. Vielleicht ist das so, nach einer Nacht im Schnee. Wann sie mich wohl gefunden haben?

Als die Blutung schwächer wird, wickelt mir die pummelige Schwester einen viel zu festen Verband um die Hand und verlässt wortlos das Zimmer.

Ich bin alleine.

Doch dann öffnet sich erneut die Tür und ein großer Mann in weißem Kittel betritt das Zimmer. Er ist bestimmt der Arzt. Ich hasse Ärzte. Er kommt auf mich zu und begrüßt mich mit einem aufgesetzten Grinsen und den Worten: „Guten Tag, ich bin Doktor Will. Da haben Sie ja nochmal Glück gehabt!“

Stumm starre ich den Arzt an. Glück? Wieso Glück? Hier im Krankenhaus zu liegen würde ich nicht als Glück bezeichnen. Lieber würde ich jetzt eingefroren im Wald liegen, sanft zugedeckt von einer dünnen Schicht Neuschnee. Ich liebe den Schnee.

Schließlich scheinen ein paar Synapsen meines Sprachzentrums doch wieder zueinanderzufinden und ich krächze mit leiser Stimme: „Warum bin ich hier? Wie bin ich hierher gekommen?“

„Sie wurden heute Nacht von einer Hannah Dinter fast erfroren im Wald gefunden und hierher gebracht.“

Hannah?? Warum Hannah? Das kann nicht sein. Sie ist tot. Ich habe sie im Stich gelassen. Meine eigene Schwester. Entsetzt schaue ich Doktor Will an.

„Kennen Sie Frau Dinter?“ fügt er hinzu.

Eine Weile lang starre ich ihn an, dann stottere ich langsam: „Ja. Ich kenne sie. Sie…sie ist meine Schwester. Und sie ist tot“.

„Das glaube ich nicht. Sie wartet im Flur auf Sie. Ist es für Sie in Ordnung, wenn sie reinkommt?“

Ich nicke. Doktor Will verlässt das Zimmer. Mein Kopf brummt. Mein Magen verkrampft sich vor Angst. Warum bin ich einfach weggelaufen? Ich habe sie im Stich gelassen.

Langsam öffnet sich die Tür meines Krankenhauszimmers. Ich schließe die Augen. Als ich sie wieder öffne, steht sie vor mir. Ein leerer Blick, tiefe Augenringe, ein paar Kratzer und ein großes lila-blaues Hämatom zieren ihr schmales Gesicht. Ein vorsichtiges Lächeln zeichnet sich auf ihren blassen Lippen ab. Ich richte mich auf und schlinge meine Arme um sie. Da wird mir klar: Sie lebt. Wärme durchströmt meinen ausgekühlten Körper. Ich möchte sie nie wieder loslassen. Sanft flüstert sie mir ins Ohr:

„Keine Angst. Er ist weg.“

Ich spüre mein Herz gleichmäßig schlagen. Die Kälte verlässt meinen Körper. Ich taue auf.