Von Mona Ullrich

Der Dezember war mild gewesen. Die Sonne hatte immer wieder ihr Licht über die graue Stadtlandschaft geworfen.

Aber dann kam der Januar. Von ihrem Fenster aus sah Miriam, wie die Schneeflocken trieben. Sie waren nicht dicht, aber groß und bedeckten rasch Dächer und Gehwege. Einige Leute unten gingen mit aufgespannten Schirmen.

Miriam wollte nicht frieren. Sie hatte gerade eine Woche Heilfasten hinter sich und war abgemagert. Sie hatte ihre Ernährungsgewohnheiten umstellen wollen im neuen Jahr. Das neue Jahr war anscheinend aber für diesen Vorsatz nicht günstig. Es verlangte Kraft. Und die hatte sie jetzt nicht.

Sie kehrte in düsterer Stimmung an ihren Schreibtisch zurück und sah, dass sie eine Mail von ihrem Freund Maxi erhalten hatte. Er lud sie zu einem Schneespaziergang ei.

Sollte sie absagen? Sie sah Maxi nicht mehr so oft wie am Anfang ihrer Beziehung, weil er für eine wichtige Prüfung lernte. Er hatte zu viel gebummelt und musste sich jetzt anstrengen.

Vor dem Fenster der Schneevorhang. Und der Wetterbericht warnte vor Kälte. Aber die richtige Kleidung mochte helfen. Sie ging nach nebenan zu ihrer Mitbewohnerin Kerstin und fragte: „Leihst du mir deinen blauen Mantel?“

Sie hatte sich in Kerstins blauen Mantel verliebt, als sie ihn zum ersten Mal sah. Gefüttert mit Daunen und wadenlang und tiefblau, mit einer großen pelzbesetzten Kapuze. Der Pelz war nicht echt, aber das war gut so. Sie lieh diesen Mantel manchmal aus und fühlte sich darin wie eine Schneekönigin.

Eine Viertelstunde später stand sie an der Bushaltestelle. Sie hatte sich die Kapuze über den Kopf gezogen und einen bunten Schal umgebunden. Aber sie fror trotzdem.

Missbilligend sah sie an sich hinab. Sogar ihre Beine in den engen Jeans schienen dünner geworden.

Im Bus war es warm. Sie lehnte sich in ihrem Sitz auf dem oberen Deck zurück und sah wieder dem Schnee zu. Sie hätte sich an diesem Wetter freuen können, wenn sie nicht so geschwächt gewesen wäre.

Dann der Tiergarten. Miriam und Maxi gingen Hand in Hand durch die Alleen und erzählten einander. Maxi war auch dünner geworden, weil er so viel Stress hatte. Sie lachten und nahmen sich vor, nach dem Spaziergang in einer Bäckerei einzukehren.

Miriam spürte die Kälte im Gesicht und erinnerte sich an ihre Kindheit im Schwarzwald. Da hatte sie die Kälte als süß empfunden. Und war sie nicht wenigstens anregend für die Sinne? Sie schmiegte sich in ihren Mantel und freute sich auf die Bäckerei. Sie gab Maxi einen Kuss auf die Wange.

„So zutraulich heute?“ fragte er. Er war Mathematikstudent und Skeptiker. Er traute Miriams Verliebtheit nicht ganz.

Der Schnee bedeckte sie. Er eroberte die Stadt. Alles war weiß. Die Autos fuhren zischend durch den Schnee. Die Wasser waren trübe, und schneetrüb war auch das Licht.

„Habt ihr eine Zigarette?“ fragte plötzlich jemand hinter ihnen. Sie drehten sich um und hatten einen älteren Mann in einer schmierigen Daunenjacke und alten Jogginghosen vor sich. Maxi gab ihm eine Zigarette. Der Mann bedankte sich mit einem freundlichen Grinsen, das schlechte Zähne zeigte.

„Wo der wohl hingehört?“ fragte sich Miriam. „Der ist vielleicht obdachlos!“ Sie hatte nicht bedacht, dass es Menschen in der Stadt gab, für die dieses Wetter wirklich schlimm war.

Sie beide dagegen konnte in der nächstgelegenen Bäckerei heiße Schokolade und Pfannkuchen genießen.

Aber es machte keinen Spaß.