Von Sarina Stützer

Mir ist kalt. Seit vierzig Jahren liege ich im Eis und warte. Ich habe es mir nicht ausgesucht, hier zu liegen, unbeweglich, unlebendig, tot. Mein Körper ist gefroren, aber mein Geist ist noch hier. Ich weiß nicht, wie das sein kann.

 

Vorsichtig setzte Lisa einen Fuß vor den anderen. Es war wärmer geworden, und der Schnee, der die Gletscherspalten bedeckte, war trügerisch. Doch Lisa war hier aufgewachsen und kannte jeden Zentimeter. Sie liebte es, hier allein zu sein und sich als kleines Teil des großen Ganzen zu fühlen.

Plötzlich hörte sie hinter sich den Schnee knirschen. Sie drehte sich um und sah einen jungen Mann auf sich zukommen, etwa in ihrem Alter. So sorglos, wie er sich bewegte, schien er keine Ahnung von den Gefahren eines Gletschers bei Tauwetter zu haben.

„Hallo“, sagte er. „Sind Sie von hier? Ich habe mich verlaufen.“

Lisa nickte. Auch das noch, ein Tourist, dachte sie. Nun gut, es wurde eh Zeit, den Heimweg anzutreten. „Kommen Sie“, sagte sie. „Gehen Sie am besten genau hinter mir und treten dabei in meine Fußstapfen.“

 

Das Eis um mich herum bewegt sich. Nach menschlichen Maßstäben sehr langsam, nach Gletscherzeit rasend schnell. Ich werde mit dem Eis bewegt. Hat es mich zunächst immer tiefer gedrückt, so rückt nun die Oberfläche näher. Es wird heller. Und wärmer – obwohl es immer noch Eis ist.

 

Ferdi Hofer von der Spurensicherung stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. „Was tippst du: Ein neuer Ötzi oder ein Verbrechen?“

Kommissar Oberleitner brummte Unverständliches. Er blickte in die Runde aus Archäologen und Kriminologen, die beobachteten, wie vor ihnen ein Block aus dem Gletscher gesägt wurde, in dem der Schatten einer menschlichen Gestalt sichtbar war.

„Ja ja, der Klimawandel“, plauderte Ferdi unbekümmert weiter. „Schon spannend, was der Gletscher so nach und nach freigibt.“

Wieder brummte der Kommissar nur.

„Kaffee?“ Dankbar nahm Oberleitner den Pappbecher aus der Hand der THW-Mitarbeiterin und starrte auf den Eisblock. Er hatte ein schlechtes Gefühl gehabt, als er vor Jahren diesen Job angenommen hatte. Er hätte auf dieses Gefühl hören sollen. Denn er war ziemlich sicher, dass das, was der abschmelzende Gletscher hier freigab, keine eiszeitliche Touristenattraktion werden würde. Und er konnte es nicht verhindern.

 

Es laufen Menschen auf dem Eis herum, und es werden stündlich mehr. Es ist immer noch kalt, und ich kann mich immer noch nicht bewegen. Dieser Körper wird sich nie mehr nur auf meinen Wunsch hin bewegen. Trotzdem bin ich noch hier. Ich warte.

 

Zunächst liefen sie schweigend hintereinander her. Dann schloss er zu ihr auf. Lisa runzelte die Stirn, sagte aber nichts.

„Ich heiße Julian.“

„Lisa“, erwiderte sie.

„Großartig, diese Bergwelt, nicht?“

Lisa hatte für diese Klischees nicht viel übrig, aber bei ihm klang so viel echte Begeisterung durch, dass sie lächeln musste. „Bist du öfter hier?“

„Eigentlich nur im Sommer. Zum Skifahren bin ich meist am großen Hang unterwegs. Aber heute wollte ich mal ein wenig allein sein“, sagte er und sah sich um. „Die Gegend sieht allerdings ziemlich anders aus als im Sommer.“

Überrascht sah Lisa zur Seite. Also doch kein Tourist. Vermutlich kam er aus einer der umliegenden Städte.

 

Ich muss noch etwas zu Ende bringen. Ich weiß nicht, was es ist, und ich weiß nicht, wie ich überhaupt irgendetwas vollbringen soll mit diesem toten Körper. Aber der Drang ist stark und ich versuche, mich in Geduld zu üben. Ich kann es ja nicht beschleunigen, kann nur warten. Bis der Tag kommt.

 

Vierzig Jahre lang hatte er diesen Ort gemieden und gehofft, nie mehr daran erinnert zu werden, was hier geschehen war. Und nun stand er ausgerechnet in seiner Eigenschaft als Hüter des Gesetzes an dieser Stelle. Was für eine Ironie. Die übelsten Streiche spielte einem das Leben selbst. Hätte er nur diesen Job nicht angenommen. Aber die Alternative wäre ein Kommissariat in der Großstadt gewesen, und das wollte er sich so kurz vor der Pensionierung nicht antun.

Er zuckte zusammen, als ihn jemand an der Schulter fasste.

„Julian, alter Freund, was ist? Geht’s dir nicht gut?“ Ferdi sah ihm besorgt ins Gesicht.

Julian Oberleitner schüttelte den Kopf. „Alles in Ordnung.“ Noch, dachte er. „Ich war nur in Gedanken.“

„Sie bringen den Block in die Gerichtsmedizin, um ihn dort langsam aufzutauen“, berichtete Ferdi. „Doch sie haben wohl zu knapp gesägt, und jetzt schaut schon etwas heraus. Quietschgelb.“ Ferdi kratzte sich an der Nase. „So wie deine Corvette damals.“ Er lachte. „Mei, wie komm ich jetzt auf die? Das ist doch ewig her. Ich hab ja nie verstanden, wieso du die damals verkauft hast. Ich hätte geschworen, die fährst du bis an dein Lebensende, so verliebt, wie du in das Auto warst.“

Julian Oberleitner wünschte, Ferdi würde endlich aufhören zu reden. Er hatte schon die Hand gehoben, um ihm einen leichten Stoß zu versetzen. Er ließ sie sinken und lachte bitter. Einmal war genug.

 

Das Kreischen der Sägen schmerzt, dabei können meine Ohren gar nicht mehr hören. Es ist zwar alles noch da, aber nichts davon funktioniert mehr.

Nun wird es nicht mehr lange dauern.

 

Lisa lachte. Sie setzte immer noch vorsichtig einen Schritt vor den anderen, und sie kamen nur langsam voran. Aber das störte sie nicht mehr, denn wider Erwarten machte es ihr großen Spaß, Julian zuzuhören, wie er ein peinliches Erlebnis zum Besten gab.

„Ich habe auch Mist gebaut, und das ist noch gar nicht so lange her“, sagte sie dann.

„Erzähl!“

„Unten im Tal auf dem Parkplatz steht ein knatschgelbes Auto, so was Sportliches. Ich bin hin, um es mir anzuschauen. Eine Corvette!“ Lisa schüttelte den Kopf. „Wer fährt denn mit so einem Auto mitten im Winter in die Berge?“

„Und weiter?“

„Ich bin ein bisschen drum herumgelaufen und hab durch die Scheiben geschaut. Leider hab ich vergessen, dass ich meinen Schlüsselbund in der Hand hatte. Aber der Kratzer fällt echt kaum auf.“

Julian blieb stehen. „Was?“

„Ach komm, nur ganz winzig“, lachte Lisa. „Der Typ, dem das gehört, hat wahrscheinlich so viel Kohle, dass er gleich einen neuen Wagen kauft, anstatt das ausbessern zu lassen.“

Julian nahm ihren Arm und drehte sie zu sich herum. Seine Stimme war eiskalt. „Hast du eigentlich eine Ahnung, was so ein Wagen kostet?“

„Nur ungefähr“, sagte Lisa. „Mann, der wird schon gut versichert sein.“

„Ist er nicht“, stieß Julian zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Das wollte ich nächste Woche machen.“

„Du?“ Lisas Augen wurden groß. Dann atmete sie aus. „Im Leben gehört das Auto nicht dir, du bist doch viel zu jung!“

„Ach ja?“ Julian kramte in seiner Jackentasche. „Und was ist das?“ Er wedelte mit einem Autoschlüssel an einem riesigen Tweetie-Anhänger vor ihrer Nase herum.

„Das kann doch von jedem Auto sein. Erst recht mit diesem gelben …“ Lisa wurde unsicher. Sie hatte geglaubt, er mache Spaß, aber langsam kamen ihr Zweifel. Dann lachte sie erleichtert. „Wer würde sich denn einen Tweetie-Anhänger an einen Corvette-Schlüssel hängen?“

Julian starrte sie finster an.

Lisa trat einen Schritt zurück. „Wie kommt denn jemand wie du zu so einem Auto?“

„Das geht dich gar nichts an“, fauchte Julian und machte einen Schritt auf sie zu. „Und für den Kratzer wirst du bezahlen, bis auf den letzten Groschen!“

Wütend stieß er sie vor die Schulter. Lisa verlor kurz das Gleichgewicht und machte einen Schritt rückwärts, doch ihr Bein fand keinen Halt und sank ein. Sie schrie auf und griff nach Julians Hand. Er fasste nicht zu und sie erwischte nur seinen Jackenärmel. Rutschte ab und hatte schließlich nur noch den Autoschlüssel mit dem riesigen Gummianhänger in der Hand. Julians Versuch, sie und den Schlüssel festzuhalten, kam zu spät. Lisa stürzte mit dem Schnee ins Bodenlose und ihr Schrei brach ab. Dann war nur noch Stille.

Julian stand einige Zeit reglos und starrte auf das Loch. Dann wandte er sich ab und ging, so schnell er es auf dem trügerischen Grund wagte, davon.

 

Es ist so weit. Bald werde ich mein Geheimnis preisgeben. Und dann werde ich hoffentlich in Frieden gehen können.

 

Die Gletscherleiche, die der Klimawandel ans Tageslicht befördert hatte, war keine archäologische Sensation, dafür aber eine kriminalistische. Es stellte sich heraus, dass es sich um die vor vierzig Jahren verschwundene Lisa Sellner handelte. Die Leiche lag in Embryohaltung und barg vor ihrem Körper einen Gegenstand in den Händen. Zwei Finger brachen ab, als die Gerichtsmediziner den Autoschlüssel mit dem Tweetie-Anhänger daraus entfernten.