Von Monika Heil

I

Ein klagender Ton, der das Unterbewusstsein durchdringt, weckt sie auf. Im ersten Moment registriert sie nicht, dass es ihre eigene Stimme ist. Vorsichtig befühlen ihre Finger die harte Pritsche. Sie weiß nicht, wo sie ist, geschweige denn, wer sie hierher gebracht hat. Bestürzt versucht sie, den Raum zu erfassen. Eine trübe, nur wenige Watt schwache Glühbirne wirft diffuses Licht. Es gibt keinen Lichtschalter. Die Wände sind weiß gekachelt und stehen viel zu dicht um sie herum. Der Bodenbelag starrt in trübem, glanzlosem Grau. Jemand hat ein weißes Leinentuch über ihren spärlich bekleideten Körper gebreitet. Sie hätte vermutet, sich in einem Leichenschauhaus zu befinden, wenn es nicht so heiß wäre, furchtbar heiß. Sie ringt nach Luft, ihr Herz stolpert, jeder Schlag dröhnt in ihren Ohren. Angst kriecht in Wellen durch alle Glieder, droht, sie zu zermalmen.

 

Was ist geschehen? Sie versucht, sich zu konzentrieren. Es gelingt ihr nicht. Erschöpft schließt sie die Augen. Erinnere dich, mahnt sie. Es ist sinnlos. Die letzten Stunden scheinen wie ausgelöscht. Wie spät ist es? Sie trägt ihre Armbanduhr nicht mehr. Wer hat sie genommen? Warum bin ich hier?

 

Erneut richtet sie sich auf, will ihre langen Haare aus dem Gesicht streichen. Da sind keine Haare. Verwirrt tastet sie mit den Fingerspitzen über ihren Hinterkopf. Raspelkurze Stoppeln. Überall. Jemand hat ihr den Kopf geschoren. Wer? Warum? Entsetzt sucht sie nach einer Erklärung oder einem Ausweg. Vergeblich. Der Raum ist fensterlos, die Tür so makellos weiß wie die Wände. Eine Klinke gibt es nicht. Sie ist allein in einer Umgebung – weiß wie Schnee.

Plötzlich kommt die Erinnerung, dunkel, bruchstückweise, abgehackt. Der gefrorene Weiher. Das Messer! Er hatte ein Messer in der Hand.

»Ich werde dich zerstören!« Er trug einen weiten, dunklen Mantel. Sie konnte die Gestalt nicht erfassen, nur hören. Sie erkannte seine Stimme. Das war ihr Fehler.

»Georg!«, hatte sie geschrien und dann war das Unheil wie eine Apokalypse über sie hereingebrochen. Chaos, Weltuntergang, irgendwann gnädige Dunkelheit.

 

Wo bin ich? Sie hat keine Ahnung. Plötzlich erlischt – wie von Geisterhand – das diffuse Licht. Jetzt ist es stockfinster um sie herum. Sie schreit und schreit. Niemand scheint sie zu hören.

 

II

Professor Modrich blickt unwirsch über den Rand seiner Brille, als sich die Tür öffnet. Er hasst es, wenn nicht angeklopft wird.  

»Entschuldigen Sie, Herr Professor …«

»Wie oft habe ich Ihnen gesagt, Sie sollen anklopfen?«, faucht er. Die junge Frau lässt sich nicht beirren. Erst vor seinem Schreibtisch bleibt sie stehen.

»Die Patientin in Wachraum 13 ist zu sich gekommen. Sie wollten sofort informiert werden.«

»Danke, Frau Sebald.«

Es ist zwecklos. Er wird den jungen Dingern keine Anstandsregeln mehr beibringen können. Und er will es auch gar nicht. In spätestens drei Monaten wird er hier nicht mehr arbeiten, keine Forschungen mehr betreiben, denn er wird auf Emily hören. Seine Frau glaubt an einen baldigen Zusammenbruch und mahnt ihn ständig, das Land zu verlassen. Sie hat nahe Verwandte in Amerika. Die kümmern sich bereits um die nötigen Formalitäten.

 

Schwerfällig steht der Professor auf. Er schüttelt seine Gedanken ab und greift nach dem Klemmbrett. Seine Sekretärin verlässt wortlos das Zimmer. Die Tür fällt knallend ins Schloss. Dr. Modrich folgt ihr. Er drückt betont vorsichtig die Klinke hinunter und lässt sie kurz darauf fast lautlos wieder ins Schloss fallen. Wortlos durchquert er das Vorzimmer. Die Wachräume liegen im untersten Bereich des Komplexes. Der ist ausschließlich dem Fachpersonal zugänglich.  

 

Die Überwachungskamera ist außen angebracht. Ein Wunder der Technik. Nicht einmal die winzige Öffnung, in der die Linse platziert ist, kann man von innen erkennen. Aber von hier draußen hat er eine komplette 360-Grad-Rundumsicht. Die Patientin sitzt auf der bodentiefen Liege. Sie hält die Hände vor ihr Gesicht. Ihre Schultern zucken. Sie weint. Professor Modrich schaut auf seine Notizen, die Kurzfassung der offiziellen Version, und wiederholt in Gedanken:

Andrea Vossen, 31 Jahre alt, geschieden. Steht unter dem Verdacht, ihren früheren Ehemann mit einem Messer angegriffen zu haben. Georg Vossen ist nur leicht verletzt worden, hat seine Frau in Abwehr niederschlagen können und die Polizei informiert.

Professor Modrichs Freund, Kriminalkommissar Meissner, der sich seit kurzem Obersturmführer nennen darf, registrierte die Verletzungen und reagierte gewohnt schnell. Er telefonierte mit Dr. Mende, der als Notarzt sofort zur Stelle war und die Einweisung in Modrichs Klinik veranlasste. Es klappte wie immer – geräuschlos und zuverlässig. Auf die Mitglieder des ´inneren Zirkels` war Verlass. MMM funktionierte. Im Interesse der Forschung.

 

Was für die Polizei wie ein Familiendrama klang, sollte dem Wissenschaftler einen Ausbruch von irrationalem Wahn signalisieren. Professor Modrichs Spezialgebiet. Die tätliche Szene hatte sich in dem kleinen Wäldchen am zugefroren See abgespielt. Georg Vossen, der Obduktionshelfer des Professors, hatte ihm mehrfach von den ´Anfällen` seiner Ex-Frau erzählt. Dass er, von persönlichem und ideologischem Hass zerfressen, einen bestimmten Plan verfolgte, war seinem Vorgesetzten schnell klar geworden. Modrich hatte durch sein Schweigen zugestimmt. Im Interesse der Forschung.

 

Doch Georg Vossen war durch einen freilaufenden, großen Hund unbestimmter Rasse gestört worden, hatte sein Vorhaben abbrechen müssen. Egal. Ihr Schicksal war auch so besiegelt. Warum er wenige Wochen später an die Front versetzt wurde, hinterfragte er nicht. Der Hauptgefreite Vossen fiel in den letzten Kriegstagen.

 

                         III

Emily sollte Recht behalten.

Ihre amerikanischen Verwandten nahmen sie beide mit offenen Armen auf. Die süße kleine Cousine Emily und den armen deutschen Professor, der noch rechtzeitig das Land hatte verlassen können, bevor in Deutschland alles zusammenbrach. Ein Neuanfang. Ein Großonkel verhalf ihm durch Adoption sogar zu einem neuen Namen. Seine Gesinnung nahm er mit, äußerte sie allerdings niemals wieder laut.

 

                      IV

Zigaretterauchend steht er auf dem Balkon seiner Villa und schaut auf den kleinen Teich, den der Nachbar für seine Zwillinge angelegt hat. Es ist Februar. Die Eisschicht scheint zu halten. Bruchstückhaft überfällt ihn die Erinnerung an seinen letzten Fall in Deutschland. Eine junge Frau, Jüdin, wie alle seine Forschungsobjekte, die von ihrem eigenen Mann – Ex-Mann –  der Schizophrenie verdächtigt worden war. Der Professor hatte das neue Mittel an ihr getestet. Erfolglos – wie befürchtet.

»Vergangenheit«, mahnt er.

 

Die Zwillinge drehen ihre Pirouetten.

»Benny, komm rein. Du holst dir noch den Tod bei dieser Kälte so ohne Jacke. Und lass´ endlich die Qualmerei.«

Er hasst die anglisierte Kurzform seines Namens. »Benjamin Siegfried heiße ich«, murmelt er unhörbar. Seufzend  schnippt er die Zigarette über die Brüstung und kehrt ins Wohnzimmer zurück.

»Hast du das gelesen? Kriegsverbrecherprozesse in Deutschland. Jetzt, nach drei Jahren! Dr. Friedhelm Mende. Hier steht, er war Militärarzt in Berlin. Den hast du doch auch gekannt, oder? Und dann noch ein hochrangiger Polizeibeamter namens Meissner. Könnte das Hugo sein?« Fragend schaut sie zu ihrem Mann, der mit dem Rücken zum Raum steht und seine Hände am Kamin wärmt. So kann sie seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, registriert nur ein wortloses Kopfschütteln. »Nach einem weiteren Arzt wird in diesem Zusammenhang noch gefahndet, heißt es hier. Schrecklich, was denen alles vorgeworfen wird.» Seufzend blättert sie die Zeitungsseite um.

 

MMM – die drei M. Der „innere Zirkel“. Seine Frau hat bis heute keine Ahnung. Wozu auch? Sie hat sich für seine Forschungen nie interessiert. Für ihn war es eine aufregende, spannende Zeit damals. Sein neues Metier – Schönhheitschirurgie – ist dagegen völlig uninteressant. Wird aber gut bezahlt. Sehr gut, denn seine kleine Klinik nimmt nicht nur reiche Amerikanerinnen auf. Und die Deutschen, die den Weg zu ihm finden und ihn möglicherweise erkennen, schweigen mit Sicherheit. Aus Dankbarkeit für ihr neues Aussehen. Auch das wird er Emily nie erzählen. Sie ist – wie schon in Deutschland, so auch hier – nur Statistin in seiner Welt geblieben.

Er fährt sich mit der Linken über die Augen und knipst damit seine Emotionen aus. Lächelnd dreht er sich nun um.

»Hast du noch einen Kaffee für mich, Liebes?«

Version 2