Von Beate Fischer

Der arktische Nachtwind hatte die Wolken nach Süden getrieben und ließ die Eiszapfen klirren. Das Neubaugebiet am Rande der kleinen Stadt lag ausgestorben in der Morgensonne, deren Wärme an einer Wand aus frostiger Luft abprallte. Die Handwerker hatten ihre Arbeit schon in der vergangenen Woche eingestellt. Ein achtundvierzigstündiger Regen hatte die Baugruben in Sümpfe verwandelt, die den nachfolgenden Schnee verschluckten. Die bereits eingepflanzten, reifüberzogenen Wände ließen niemanden mehr an sich heran.

Mitten in dieser Landschaft aus halbwüchsigen Fertighausruinen und vereisten Kratern lag das Häuschen von Paula Seifert: eine Kate vom Beginn des vorigen Jahrhunderts, ein windschiefer Dorn in den Augen der Gemeinde und des Bauträgers.

Paula erhob sich schwerfällig aus ihrem Ohrensessel. Sie hatten ihn am Abend dicht an den Kamin gerückt und hier ihr Lager aufgeschlagen, weil im Schlafzimmer die Bettdecke steifgefroren war. Das Öl war so knapp geworden wie ihr Geld, das in einem Sofakissen ruhte. Sie hauchte gegen die Fensterscheibe und rieb mit ihren Fäustlingen ein Loch in die dicht gewachsenen Eisblumen, die in den Sonnenstrahlen funkelten.

Sie schaute gerne den Bauarbeitern zu. Männern, wie ihr Horst einer gewesen war. Kräftig, zupackend, oft ein Lied auf den Lippen. Doch wo waren sie geblieben? War heute Sonntag? Dumpf erinnerte sie sich daran, dass sie das Surren der Kräne, das Kreischen der Sägen und das Knirschen der Bagger schon seit einigen Tagen vermisste.

Mühsam humpelte sie in die Küche und setzte Wasser auf. Ein heißer Tee würde ihre müden Glieder stärken. Sie öffnete die Dose mit den getrockneten Lindenblüten und sog den unvergleichlichen Duft ein. Er erzählte ihr von langen Sommern, in denen sie barfuß über frisch gemähte Wiesen gelaufen war und hoch in Kirschbäumen gesessen hatte.

Während der Tee zog, nahm sie ihren Korb und trat durch die Hintertür ins Freie. Die Träne in ihrem Augenwinkel wurde zur glänzenden, eisigen Perle, als sie die letzten Holzscheite unter der Plastikplane hervorzog. Einen Tag würden sie ihr noch Wärme schenken, dann gab es nur noch den altersschwachen Herd, der verhalten Hitze spenden konnte.

„Ich sollte sie anrufen“, murmelte sie vor sich hin. „Ihre Stimme zu hören, hat mir immer gutgetan. Vielleicht kann ich sogar mit ihr sprechen. Vielleicht ist die Zeit reif.“

Paula griff nach dem Telefonhörer. Ihre Finger hatten die Nummer gespeichert. Doch die Leitung war tot. So tot wie das Verhältnis zu ihrer Tochter. Erschöpft sank sie zu Boden. „Unser Leben liegt in Gottes Hand. Seine Pläne sind unergründlich. Es wird schon alles seinen Sinn haben.“

Leise begann sie zu singen. „Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn allezeit, den wird er wunderbar erhalten in aller Not und Traurigkeit.“

Ihr Kreuz zwickte, als sie sich aufrappelte und in die Küche schlurfte. Kurz ließ sie ihre Finger auf der lauen Herdplatte ruhen, bevor sie mit der Tasse in der Hand wieder Richtung Wohnzimmer ging. Sie zog den Stuhl mit dem Fotoalbum neben ihren Sessel, mummelte sich in ihre Wolldecke und legte ein Schaffell über die Beine. Nur noch kurz ausruhen …

Sie erwachte mit einer vollen Blase und Gänsehaut. Im Traum hatte sie Erdbeermarmelade gekocht und in Gläser gefüllt, die sie im Keller meterhoch auf Regale stapelte. Doch plötzlich hatten sich kleine grüne Raupen durch die Deckel gefressen und waren die Treppe hinaufgekrochen. Paula schüttelte sich vor Kälte und Widerwillen. Nachdem sie sich erleichtert hatte, feuerte sie den Kamin an. Wie gut er zog. Das war nur Horsts Verdienst. Nach der Hochzeit war er hier eingezogen und hatte das Häuschen, das einst ihr Großvater gebaut hatte, von oben bis unten renoviert. Ihr Vater war im Krieg geblieben und die Mutter war ihm aus Kummer gefolgt.

Flammen schlugen hoch, begannen zu tanzen, umschlangen sich zärtlich. Sie meinte, Musik zu hören, ein Akkordeon, eine Trompete. Fröhlich begann sie mit zu klatschen. Ihr Horst hatte sie nur selten ausgeführt. Wenn er in seinen feinen Anzug schlüpfte und sie ihr geblümtes Kleid aus dem Schrank holte, war das etwas Besonderes, von dem sie beide lange zehrten.

Zurück in ihrem Sessel, ergriff sie das Album. Die porösen Seiten drohten schon seit einigen Jahren zu brechen. „Vorsicht, Paulinchen, Vorsicht. Da drinnen wohnt die Erinnerung,“ sagte sie sich leise und streichelte über ein Bild von ihrer Tochter. Seit über drei Jahren hatten sie sich nicht gesprochen. Und daran war nur dieser vermaledeite Bebauungsplan schuld. Immer schon waren hier Wiesen und Felder gewesen. Doch dann kam dieser Bürgermeister auf die Idee, dass sein Städtchen wachsen sollte. Ausgerechnet hier.
„Verkauf doch diese alte Bruchbude,“ hatte Maria gesagt. „Wir suchen dir einen schönen Platz im Heim. Mit fast neunzig hast du dir ein bisschen Ruhe verdient.“
Doch Paula wollte keine Ruhe. Sie wollte ihre Linde vor dem Haus, ihren kleinen Kartoffelacker und ihre Himbeersträucher. Maria wollte das nicht verstehen. Ein böses Wort gab das andere bis Maria aus dem Haus gestürmt war.

Sie war so anders. Schon als Kind war ihr die Mutter peinlich gewesen, die mit der Natur lebte und winters wie sommers dunkle Kleider und Strumpfhosen trug. Aus der Zeit gefallen sei Paula, so hatte sie gesagt. „Mutter, so ist man vor fünfzig Jahren herumgelaufen. Und das auch nur in der tiefsten Provinz“. Früh war sie von zu Hause weggegangen, hatte sich nur selten gemeldet. Da war kein Streit, nur Unverständnis und Ferne.

Paula schob einen Scheit nach. Viel zu schnell verfiel das Holz zu Asche. Wie ihr Körper, der in den letzten Wochen um Jahre gealtert schien. Wieder schlich sich dieses Lied in ihren Sinn. „Was helfen uns die schweren Sorgen, was hilft uns unser Weh und Ach? Was hilft es, dass wir alle Morgen beseufzen unser Ungemach?“

Gejammert hatte sie nie. Dabei war das Leben manchmal nicht leicht gewesen. Schließlich war ihr Horst schon vor vielen Jahren von ihr gegangen. Andere Leute hatten sie kaum interessiert, sie war lieber für sich geblieben. Hatte mit den Vögeln im Garten gezwitschert, mit den Bienen gesummt. Die Sonne war ihr eine Freundin geworden, die ihren Rücken beschien, wenn sie sich im Garten über die Beete beugte. Wer würde sie vermissen, wenn sie nicht mehr wäre?

Wie ging nur dieser letzte Vers? Paula runzelte die Stirn. Das Gesangbuch lag auf ihrem Nachttisch. Sie würde hinübergehen müssen, denn sie kannte diese Fragen, die sich in ihrem Kopf zu drehen begannen. Die wurde sie nicht mehr los, bis sie beantwortet waren. Als sie sich erhob, begann sich die Welt zu drehen. Sie stützte sich an der Wand ab und tastete sich langsam vorwärts. Hui, wie war das kalt. Hoppla, dieser alte Teppich.

Ihr Fuß hatte sich verfangen. Sie strauchelte und fiel. Schwer atmend blieb sie liegen, das Bein seltsam verdreht. Der Schmerz verschonte sie. Nebel umhüllte ihren Geist. Um sie herum begann eine Melodie die Luft zu füllen, so laut, dass sie das Klopfen an der Tür übertönte. Und dann stand der Text klar und deutlich vor ihren Augen, schwarz auf weiß: Sing, bet und geh auf Gottes Wegen, verricht das Deine nur getreu und trau des Himmels reichem Segen, so wird er bei dir werden neu. Denn welcher seine Zuversicht auf Gott setzt, den verlässt er nicht.