Von Eva Fischer
Ich stehe am Fenster und hauche einen Kussmund auf die Scheibe.
Mein warmer Atem vernebelt mir den Blick in den Garten. Über Nacht hat es geschneit und die weißen Kristalle funkeln in der Morgensonne. Ich möchte das Fenster öffnen und zu dir hinausklettern, denn auf dem zugefrorenen Teich sehe ich dich Pirouetten drehen und mir zuwinken. Deine blauen Augen lächeln mich tiefgründig an wie der Ozean. Seufzend drehe ich mich um, gehe zur Küche und lasse mir von der dampfenden Espessomaschine einen Cappuccino brauen, der mir Wärme für den Tag geben soll.
Nein, kleine Eisprinzessin, ich kann nicht zu dir, ich muss ins Büro, muss arbeiten. Vielleicht tanzt du noch heute Nacht für mich, wenn ich meine Pflichten erledigt habe.
Sie lässt sich nicht wegschieben. Das tat sie nie. Als ich im Auto sitze, mich in die Schlange der Berufstätigen einreihe, sehe ich sie auf dem Rücksitz. Die Beine hat sie kokett übereinander geschlagen. Das Spitzenhöschen blitzt unter dem kurzen Tanzröckchen hervor. Ihre Haut ist noch immer makellos glatt, schimmert weißer als der Schnee am Wegesrand, den die Autos mittlerweile zu gräulicher Matsche verarbeitet haben. Sie schaut in das Nachbarauto, wo der Fahrer genervt dem Stop and Go Spiel folgt.
Sind das hier unsere Träume von einst? Widerwilliges Rindvieh, das jeden Morgen auf die Arbeitswiese getrieben wird, abends wieder zurück in den Stall heimkehrt, um sich auszuruhen für den nächsten Arbeitstag?
Mit fünfzehn kamst du in unsere Klasse geschneit. Meine Banknachbarin war krank und so nahmst du neben mir Platz, ungefragt, als ob es selbstverständlich sei, dass wir zusammengehörten. „Ich bin die Sina“, stelltest du dich vor. Ich hatte den Namen noch nie gehört. „Wie Apfel-sina?“, grinste ich.
„Lass den Apfel weg! Der bringt nur Unglück.“
Du hast etwas in mir entzündet, von dem ich vorher nicht wusste, dass es da war. Das Leben war auf einmal kein Schwarz-Weiß-Film mehr. Du hattest immer neue Ideen und vor allem den Mut, sie durchzusetzen.
Wir schminkten uns gegenseitig und fuhren dann in die Stadt. Wir probierten Hochzeitskleider an und lästerten über den Traum aller Mädchen aus Tüll und Seide.
Abends hörten wir Musik, tanzten Blues.
„Nights in white satin, never reaching the end…“
Du stecktest mir deine Zunge in den Mund. „Wir üben schon mal für später. Das kann nicht schaden.“ Dann folgte dein explosives Lachen, das ich so liebte.
„Just what you want to be you will be in the end“, sangst du mit fester Stimme mit.
Ich stimmte ein und wir wiederholten unser Credo in einer Endlosschleife.
„Yes, I love you! How I love you”, tönten wir gemeinsam und schauten uns in die Augen.
Wen und was liebten wir? Uns? Unsere Jugend? Unser Leben, das sich wie Zuckerguss vor uns ausbreitete?
Meine Noten machten den Salto Mortale nicht mit, den Sina und ich täglich praktizierten. Meine Eltern beäugten meine neue Freundin misstrauisch.
Was machten ihre Eltern? Sie waren unsichtbar. Die Arbeit im Restaurant hielt sie uns fern. Wenn wir in der Schule waren, hätten wir sie vielleicht in der Wohnung treffen können. Ansonsten kauften sie ein, kochten, bedienten die Gäste, brachten das Lokal für den nächsten Tag wieder in Ordnung. Sina hatte alle Freiheiten, um die ich sie glühend beneidete .
Dann kam die dunkle Jahreszeit und du zeigtest mir deine Schlittschuhe mit den silbern glänzenden Kufen. „Komm, lass uns eislaufen!“ Deine Vorschläge zogen mich wie immer in den Bann, ohne dass ich wusste, wohin sie führten.
Ich besaß keine Schlittschuhe, aber man konnte in der Eishalle welche ausleihen. Während ich mich vorsichtig an den Banden entlanghangelte, durchpflügten deine Kufen das Eis. Du folgtest einer Stimme, die nur du hören konntest. Jeden Nachmittag gingen wir jetzt eislaufen. Ich lernte mühsam mich auf dem Eis zu halten. Du hingegen mutiertest zur Eisprinzessin. Mal waren deine Schritte so schmiegsam wie die einer Katze, mal wagtest du hohe Sprünge und landetest doch stets sicher auf den Beinen, um dich anschließend übermütig wie ein Kreisel zu drehen.
Ich wurde eifersüchtig, weil das Eislaufen dich ganz absorbierte. „Lass uns mal, etwas anderes machen“, schlug ich vor. Vergebens!
Aber ohne dich war ich antriebsarm, machte mir nichts Spaß. So kam ich mit und versuchte, Eislaufen zu lernen. Zumindest gelang es mir, mich langsam von der Bande zu lösen und einigermaßen sicher auf dem Eis zu stehen, was natürlich nicht so elegant aussah wie bei dir.
Manchmal spielten wir Nachlaufen. Ich hatte keine Chance. Du warst die Katze, ich war die hilflose Maus.
Der Winter kam im Januar. Die Seen froren zu. Die Eishallenzeit war nun vorbei. Du suchtest neue Herausforderungen. Ich hatte nichts mehr, um mich festzuhalten, aber deine Begeisterung steckte mich an. Du hast das Tempo beschleunigt, denn die Eisfläche schien endlos. Der Waldsee hatte Hubbel gebildet, wie wir feststellten. Über den Baggersee pfiff der Wind und hatte das Eis spiegelglatt gefegt. Er war dein Favorit.
Wir waren nicht allein. Auch andere Jugendliche gesellten sich zu uns und es war nicht schwer zu erkennen, wie sehr dich die Jungs aus unserer Klasse mittlerweile anhimmelten. Aber beim Nachlaufen hatten auch sie keine Chance.
Wir gingen nach Hause. Mittlerweile war es dunkel, doch der Mond schien hell und die Sterne funkelten um die Wette.
„Ich hole dich heute um 10 Uhr ab. Dann tanzen wir mal wieder ganz alleine über das Eis.“ Sie küsste mich auf meine Wangen und dann auf den Mund.
Die Idee war berauschend. Ich versprach zu kommen.
Ich wollte mich kurz vor dem Abenteuer ausruhen und schlief ein. Als ich wieder aufwachte, zeigte die Leuchtziffern des Weckers schon Mitternacht. Eilig nahm ich meine Schlittschuhe, die ich zu Weihnachten bekommen hatte, und schloss lautlos die Haustür hinter mir.
Die Straße war menschenleer und ich hatte Angst. Mir fehlte deine Unterstützung. Ich malte mir immer wieder dein Gesicht aus und rechnete mit einer ironischen Bemerkung wegen meiner Verspätung. Auf dem Baggersee gab es kein Licht außer dem der Sterne und des Mondes. Ich spitzte die Ohren. Das Geräusch deiner Schlittschuhe musste doch zu hören sein in der Stille der Nacht. Angestrengt schaute ich über den See und suchte nach deinem weißen Röckchen. Vergebens. Eiskalte Angst kroch immer mehr in mir hoch. Ich hörte das Gurgeln des Wassers. Du warst sicher schon zu Hause, beruhigte ich mich.
Am nächsten Tag kamst du nicht zur Schule und am übernächsten Tag auch nicht. Deine Eltern standen mit rotgeweinten Augen vor unserer Tür. Ich als deine beste Freundin müsse doch wissen, wo ihre Tochter geblieben war. Haltlos schluchzend auch ich, verriet ich ihnen unseren Plan, führte sie zu der Stelle, wo wir uns verabredet hatten.
Erst Tage später, als die Eisschicht langsam taute, fand man dich, makellos schön. Deine Augen zeigten mehr Erstaunen als Entsetzen über das, was über dich hereingebrochen war. An einem Strudel war das Eis brüchig geworden. Es hielt deinen Körper nicht mehr, sondern wurde zur tödlichen Falle, aus der es kein Entrinnen mehr gab.
Heute ist wieder so eine Nacht wie vor fünfzehn Jahren. Der Vollmond bringt Licht in das Dunkel. Die Kälte hat Böden und Seen festgefroren. Unter meinen Schuhen knirscht der Schnee. Noch ist er jungfräulich weiß. Ich hole meine Schlittschuhe aus dem Keller. Die Uhr auf meinem Handy zeigt 21Uhr 40. Ich nehme einen letzten Schluck von dem Glühwein auf dem Herd und ziehe meine Handschuhe an. Diesmal werde ich nicht zu spät kommen, Prinzessin.
Du wirst da sein. Da bin ich ganz sicher, denn du gehst bereits stumm an meiner Seite.